Inhalt
- Pascale Rosenblatt und Thomas Wagner
Der Staatsanwalt als Sonderrichter – Die Ärztekriminalisierung - Jens Tevres
Körperwelten prae mortem – oder: Was eigentlich möglich wäre - Kerstin Steinbach
Die Pille enthemmt – nehmen Sie sie! - Vogelgrippe und humane Influenzapandemie – Was ist dran?
- Der Ärzteprotest und seine Hintergründe
- Birgit Hansen
Leichen pflastern seinen Weg oder
Der Raubstaat in Aktion – Ein Hausarzt berichtet - Gehirnwäsche für Ärzte
- Eleonora Hoff
Wer den Tod nicht fürchtet, wagt es, den Kaiser vom Pferd zu ziehen – Hände weg von ›Dignitas‹! - KDR im Alltag
Leseprobe aus Ketzerbriefe Nr. 134
Leichen pflastern seinen Weg oder
Der Raubstaat in Aktion – Ein Hausarzt berichtet
von Birgit Hansen
Nach jahrzehntelangem systematischem Abbau hat Schröders Raubstaat mit dem im Jahre 2004 verabschiedeten »Modernisierungsgesetz« den letzten Akt der Zerstörung des deutschen Gesundheitssystems eingeleitet. 1) Flankiert von Rentenraub und Hartz IV, geht die Zerstörung der vor einem Jahrhundert durch die Arbeiterbewegung erkämpften Absicherungen für den Fall von Krankheit, Arbeitslosigkeit oder Alter ihrem Ende entgegen. Der folgende Bericht mag dazu dienen, die von den Medien verschwiegenen Folgen des Verelendungsprogramms mit ihren alltäglichen Auswirkungen auf Ärzte und Patienten exemplarisch festzuhalten:
Als Lenkungsinstrument und zur Gewöhnung an irgendwann 100%ige »Selbstbeteiligung« im Krankheitsfall (bei fortbestehendem »Beitrags«einzug) hat sich die Einführung der sogenannten »Praxisgebühr«, in Wahrheit eine Krankenkassenbeitragserhöhung, bereits jetzt für die Regierenden bestens bewährt. Weder bei Ärztevertretern noch Patienten ist ein Hauch des anfänglichen Protestes übriggeblieben, und so kann die Presse unter dem Titel ›Schlechte Zeiten für Gebührenpreller‹ höhnen: »Der Aufstand ist ausgeblieben… Inzwischen steht fest, daß die Kassenversicherten…treu und brav die Gebühr entrichten.« Und in bekannter Kumpanei mit dem Raubstaat begrüßten die Ärztefunktionäre der Bundes-KV die nun per Gesetz erleichterte gerichtliche Eintreibung der Kassengebühr als einen »Beitrag zur Gerechtigkeit«, mit dem verhindert werde, »daß wenige das Solidarsystem zu Lasten der ehrlichen Zahler ausnutzen«.
Tatsächlich ist seit Einführung der »Praxisgebühr« und den nochmals erhöhten Zuzahlungen aus eigener Tasche zu ärztlichen Verordnungen für viele Patienten die ärztliche Behandlung ihrer Erkrankungen unerschwinglich geworden. Sie können sich die jeweils 10 Euro Vorabkasse in der Arzt- und Zahnarztpraxis und bei jeder akuten Erkrankung am Wochenende schlicht nicht leisten.
Ältere chronisch kranke Patienten sind oftmals über die hohen Zuzahlungen verzweifelt, besonders in den ersten Monaten des Jahres, wenn sie Behandlungskosten bis zu 1 % ihrer Jahreseinkünfte aus eigener Tasche zu zahlen haben und dann mit den gesammelten Belegen und Nachweisen ihrer Einkünfte demütigenderweise jedes Jahr erneut eine »Befreiung« beantragen müssen. Die Rente wird gekürzt, Miete und Heizkosten steigen, und der klägliche Rest reicht gerade, um sich knapp über Wasser zu halten. Im Frühjahr rissen z.B. die massiv gestiegenen Müllgebühren – für einen 1-Personen-Haushalt mit Minimülltonne 160 Euro, die gnädigerweise in monatlichen Raten von 50 Euro abkassiert wurden – ein deutliches Loch in die Haushaltskasse vieler meiner chronisch kranken Rentner, die sich dann über Wochen keine Medikamente leisten konnten. Oftmals ist es den Patienten zu »peinlich«, ihre klägliche finanzielle Situation einzugestehen, sie versuchen, an den Medikamenten zu sparen, mal das eine, dann das andere Medikament zu »pausieren«, mit allen negativen Folgen, die dann der hohe Blutdruck, die Herzrhythmusstörungen usw. für ihre Gesundheit haben.
Für mich als Hausarzt ist dies inzwischen bittere, alltägliche Erfahrung, und ich wundere mich nicht mehr, wenn z.B. eine 74jährige, rüstige Diabetikerin trotz meines verordneten Medikamentenplans bei der Kontrolle horrende Laborwerte ihrer Blutfette und des Langzeitkontrollwertes ihrer Blutzuckereinstellung aufweist. Sie kommt, wie so viele, sowieso erst dann wieder in die Sprechstunde, wenn sie die 5 Euro für die Rezeptgebühr übrig hat. Andere Patienten haben weder das Geld für Kassen- noch Medikamentengebühr und kommen schon gar nicht mehr zu Kontrolluntersuchungen in die Praxis, wie ein 72jähriger Patient mit Diabetes und erhöhtem Blutdruck, der bereits einen Schlaganfall hatte und sich in letzter Zeit mangels Geld kaum noch in der Praxis sehen läßt. Jetzt droht ihm durch die lange Zeit erhöhten Blutzuckerwerte eine diabetische Retinopathie, d.h. die Erblindung.
Doch es betrifft nicht mehr nur die Älteren. Eine 40jährige Patientin mit Diabetes mellitus ist seit 1½ Jahren bei keinem Arzt gewesen, obwohl sie sehr genau weiß, daß sie dadurch irreversible Schäden erleiden kann. Sie erklärt mir gedrückt, daß ihre Familie die Kosten für Kassengebühr und Zuzahlungen für beide Eltern nicht aufbringen kann, deshalb hätten sie beschlossen, daß nur der arbeitende Ehemann wegen seiner Erkrankung zum Arzt geht. Jetzt, da sie gehört hat, daß sie um die 10 Euro Kassengebühr und die Medikamentenzuzahlungen bis auf 1 Euro pro Medikament herumkommt, wenn sie sich in das sogenannte ›Disease-Management-Programm‹ (DMP) der AOK einschreibt, kann sie sich die Behandlung ihres Diabetes wieder leisten!2)
Eine 32jährige Patientin muß wegen ihrer schweren Herzerkrankung ständig Medikamente einnehmen, die die Gerinnungsfähigkeit des Blutes herabsetzen, und nach eigenständigen Messungen die Dosierung der Tabletten anpassen. Dies praktiziert sie erfolgreich seit Jahren. Als jedoch in einer sie äußerst belastenden persönlichen und sozialen Lebenssituation ihre seit langem nicht aktive schizophrene Psychose erneut ausbricht, sie ihre Medikamente nicht einnimmt und zunehmend unter Wahnvorstellungen und Suizidgedanken leidet, muß sie notfallmäßig stationär eingewiesen werden. Von dort wird sie bereits nach einer Woche entlassen. Als sie sich in meiner Sprechstunde vorstellt, wirkt sie hilflos und verwirrt. Der den Krankheitsschub auslösende Konflikt ist mitnichten geklärt, sondern eher noch verschärft. Sie zeigt mir den vom Krankenhaus verordneten Medikamentenplan. Darauf hat der sie behandelnde Psychiater für mich die Notiz gemacht, daß die Patientin keinerlei Geld für Zuzahlungen habe, er aber leider nicht von allen für sie notwendigen Medikamenten Muster habe! Purer Zufall, daß ich ihr vorerst den Rest aus meinen Mustervorräten mitgeben kann.
Eine 19jährige Studentin sucht die Sprechstunde wegen einer sehr schmerzhaften blutigen Blasenentzündung auf, die bereits zu einer aufsteigenden Nierenbeckenentzündung geführt hat. Auf Befragen, warum sie bei den erheblichen Beschwerden nicht früher gekommen sei, gesteht sie, daß sie am Ende des Monats keine 15 Euro für die Kassengebühr und Medikamentenzuzahlungen gehabt hätte und erst auf ihre Bafög-Überweisung hätte warten müssen.
Ein 20jähriger Patient leidet seit drei Tagen an einem stark juckenden allergischen Ekzem am ganzen Körper. Die akuten Beschwerden kann ich durch eine Spritze lindern, als ich ihm jedoch ein Rezept schreiben will, wehrt er ab, da er sich schon die 10 Euro Kassengebühr von einem Freund habe leihen müssen, für Medikamente hätte er kein Geld.
Ein 18jähriger Lehrling, der seit einer Woche unter einem fieberhaften Infekt mit starkem, besonders nächtlichem Husten leidet, kommt schließlich an einem Freitag in die Sprechstunde und bittet mich um eine Krankmeldung für diesen Tag. Als ich ihr Medikamente für ihre eitrige Bronchitis verschreiben will, erklärt sie mir verlegen, sie sei eigentlich nur gekommen, weil sie es nicht mehr zur Arbeit geschafft habe und deswegen eine Bescheinigung benötige. Jetzt habe sie nach Zahlung der »Praxisgebühr« nur noch 3 Euro für das Wochenende in der Tasche.
Ein 22jähriger, arbeitsloser Patient kommt erst in die Praxis, nachdem er bereits seit zehn Tagen an einer eitrigen Mandelentzündung mit Hausmitteln herumlaboriert hat. Die Untersuchung ergibt eine massive Streptokokkenangina (im Volksmund »Scharlach«) mit stark erhöhten Entzündungsparametern im Blut und einer blutigen Entzündung beider Nieren. Ein Krankheitsbild, wie es vor Flemings segensreicher Entdeckung des Penicillins an der Tagesordnung war. Die akute Erkrankung kann dank hochdosierter Antibiotika-Therapie geheilt werden; da diese aber erst viel zu spät erfolgte, trägt der Patient eine chronische Schädigung seiner Nieren davon. Kassengebühr und Hartz sei Dank – hurra, die Billigmedizin ist da!
Im stationären Bereich hat sich durch Bettenstreichungen und Personalkürzungen schon in den letzten Jahren die Versorgung massiv verschlechtert. Meistens findet man trotz langwieriger Telephonate ohnehin kein Bett für die Patienten, besonders wenn sie nicht nur krank, sondern auch noch pflegebedürftig sind, da das reduzierte Pflegepersonal restlos überfordert ist. Die Einführung der ›Diagnosis Related Groups‹ (DRG), d.h. die Bezahlung der Krankenhäuser nach Krankheitsbildern und Diagnosen mit vorher festgelegten Behandlungstagen und nicht nach dem tatsächlich notwendigen Behandlungsbedarf und der Dauer, führt darüber hinaus zur Verweigerung stationärer Aufnahmen (»wie soll ich das gegenüber dem MDK3) begründen«, wurde mir z.B. die Aufnahme einer 81jährigen Patientin verweigert, die sich bei einem Sturz stark schmerzhafte Rückenprellungen – aber keine Fraktur! – zugezogen hatte und, dadurch bettlägerig, sich nicht mehr selbst versorgen konnte) und zu vollkommen verfrühten Entlassungen ohne jegliche Berücksichtigung der häuslichen und sozialen Situation der Patienten. Die behandelnden Krankenhausärzte müssen sich für ihre Therapie und die stationäre Verweildauer der Patienten gegenüber dem MDK jedesmal rechtfertigen. Tagtäglich heißt dies: Ist der 80jährige alleinstehende Patient zwei Tage nach einer Hernien-Operation nicht fit genug, daß er sich selbst versorgen, die Antithrombosespritzen selbst verabreichen kann und auch genügend Geld für das Taxi nach Hause in der Tasche hat, wird er entweder trotzdem entlassen oder die ohnehin überlasteten Klinikärzte müssen die Kostenübernahme durch die Krankenkasse in ausführlichen unbezahlten Gutachten beantragen.
Ein 54jähriger Angestellter bat mich kurz nach seiner Krankenhausentlassung telephonisch um einen Hausbesuch. Er hatte zehn Tage zuvor einen schweren Motorradunfall gehabt, bei dem er 15 Meter durch die Luft geschleudert worden war. Glücklicherweise beschränkten sich seine Verletzungen trotzdem auf eine Gehirnerschütterung, multiple Prellungen, ein stumpfes Bauchtrauma ohne innere Organverletzungen und eine schwere Vorfußprellung mit Frakturen sämtlicher Zehengrund- und Endgelenke. Bei meinem Besuch hatte er das Unfalltrauma verständlicherweise noch nicht überwunden, aber noch mehr schockiert und empört war er über die Behandlung im Krankenhaus. Kurz nach Verlegung von der Intensiv- auf die Normalstation wurde ihm mitgeteilt, da er am nächsten Tag entlassen werde, solle er sich in die chirurgische Ambulanz zum Eingipsen seines Fußes begeben. Auf seine erstaunte Nachfrage, ob diese Anweisung nicht ein Mißverständnis sei angesichts des stark geschwollenen Fußes und seines noch deutlich lädierten Allgemeinzustandes, gab es zwar aufgeregte Tuscheleien zwischen Stationsschwester und Assistenzarzt, aber ihm wurde schließlich nach Rücksprache mit dem Oberarzt die Entlassung am nächsten Tag bestätigt. Die zuständigen Ambulanzpfleger wollten den noch so stark geschwollenen Fuß zunächst nicht eingipsen, taten es aber dann – nach ausdrücklicher erneuter ärztlicher Anweisung – doch. (Ein bißchen Mitleid sollte man für Hitlers unwillige Vollstrecker vielleicht doch haben.) Man muß dazu wissen, daß ein zu früh angelegter zirkulärer Gips des Unterschenkels, dessen Weichteile noch nicht abgeschwollen sind, zu der gefürchteten Komplikation des Kompartmentsyndroms führen kann. Dabei werden Muskulatur, Gefäße und Nerven des Unterschenkels durch den Gips so stark komprimiert, daß es zu einer schweren Schädigung der Weichteile bis im schlimmsten Fall zum Absterben des gesamten Unterschenkels kommen kann. In der folgenden Nacht litt der Patient dann, wie befürchtet, unter massiven Schmerzen im betroffenen Bein, so daß ihm der Gips notfallmäßig aufgesägt werden mußte. Mit einer offenen Gipsschiene versehen, wurde er dann »planmäßig« am folgenden Tag, einem Freitag mittag, mit der Anweisung entlassen, er solle sich sofort beim Hausarzt zur Verschreibung der notwendigen Medikamente und Blutbildkontrolle melden und einige Tage später zum Anlegen eines Gehgipses wieder vorstellen. Als er sich am folgenden Dienstag in der Ambulanz meldete, wurde er vom Oberarzt angeraunzt: »Was machen Sie denn hier, das kriegen wir nicht bezahlt! Gehen Sie zu Ihrem Hausarzt!« Nur weil der Patient hartnäckig darauf bestand und mehrmals wiederholte: »Aber Sie haben mich doch zu diesem Termin einbestellt!!!«, wurde er schließlich doch behandelt und erhielt einen Gehgips.
Für diesen Patienten ging es dank seiner Wehrhaftigkeit glimpflich aus, doch das Beispiel zeigt, wie das Diktat der DRGs, das langjährig bewährte Regeln der medizinischen Diagnostik und Therapie aus den Angeln hebt, die Atmosphäre verroht und das behandelnde medizinische Personal solange unter Druck setzt, bis es sich den finanziellen Vorgaben anpaßt. (Wie war das also noch mal mit Hitlers Vollstreckern?!)
Nach Einführung der DRGs ist schnell ein neuer stehender Begriff entstanden: die »blutigen Entlassungen«. Hierunter versteht man Patienten, die mit infizierten Wunden, offenen Bäuchen, mit starken Schmerzen und oftmals immobil entlassen werden – was vor zehn Jahren noch einen Aufschrei der Entrüstung hervorgerufen hätte. Inzwischen werden mir als Hausarzt die Patienten ohne Rücksprache und unangekündigt buchstäblich vor die Tür gekippt. So wurde eine Patientin nach einem Schlaganfall vom Akutkrankenhaus innerhalb weniger Stunden plötzlich nach Hause entlassen, weil die beantragte stationäre Anschlußheilbehandlung vom MDK abgelehnt worden war. Für die Versorgung der halbseitengelähmten und schwerst pflegebedürftigen Patientin durch die alleinstehende Tochter zu Hause waren keinerlei Vorbereitungen getroffen.
Ein anderer Patient zog sich kurz vor der bereits terminierten Operation seines fortgeschrittenen Blasenkarzinoms bei einem Sturz eine Schenkelhalsfraktur zu. Nach der operativen Versorgung der Fraktur wurde er in eine Reha-Klinik verlegt und mit der urologischen Abteilung des Akutkrankenhauses abgesprochen, daß er drei Wochen später direkt von der Reha-Klinik zur dringend notwendigen Operation in die Urologie verlegt werden sollte. Trotz Absprache wurde der Patient am verabredeten Tag dann aber nicht zur Operation aufgenommen, sondern unangekündigt vom Krankentransport bei der fassungslosen Ehefrau zu Hause abgeladen. Der diensthabende Anästhesist hatte urplötzlich die Ursache des Sturzes für nicht hinreichend abgeklärt befunden, weigerte sich, die Anästhesie durchzuführen, und forderte mich als Hausarzt auf, bei dem unter starken Schmerzen leidenden und noch schwer gehbehinderten Patienten eine umfassende kardiologische, radiologische und neurologische Abklärung ambulant durchzuführen. Abgesehen davon, daß diese Untersuchungen ein halbes Jahr zuvor bereits stattgefunden hatten, waren sie dem Patienten im derzeitigen Zustand ambulant unmöglich zuzumuten. Dieser weigerte sich dann verständlicherweise aufgrund der demütigenden Behandlung – »wie ein Stück Vieh« –, überhaupt nochmals in dieses Krankenhaus zu gehen. Es bedeutete für den Patienten unnötig vergeudete Zeit mit stärksten Schmerzen, bis er endlich die Operation in einem anderen Krankenhaus durchführen lassen konnte.
Eine 65jährige Rentnerin zog sich bei einem Sturz auf Glatteis eine komplizierte, geschlossene Oberarmfraktur zu, die operativ im Krankenhaus versorgt werden mußte. Eine Woche nach Entlassung mußte sie wegen starker Schmerzen und hohem Fieber mit dem Verdacht auf Wundinfektion und Sepsis erneut stationär eingewiesen werden. Wiederum zwei Wochen später, drei Tage nach dem inzwischen üblichen Entlassungstag Freitag, kam sie blaß und erschöpft in die Praxis. Dem Entlassungsbrief war zu entnehmen, daß sie zwischenzeitlich dreimal hatte operiert werden müssen und wegen der schweren Wund- und Knocheninfektion Antibiotika für weitere sechs Wochen einnehmen müsse; entsprechend solle ich als Hausarzt die Entzündungsparameter im Blut engmaschig kontrollieren. Als ich das Ergebnis der Blutuntersuchung erhielt, war ich alarmiert, weil die Patientin nur noch über knapp zwei Drittel der sonst normalen Blutmenge verfügte (gemessen am Hämoglobin, dem roten Blutfarbstoff, nur 8,1 mg% anstatt der für Frauen normalen 12-16 mg%). Mein Anruf auf der Station ergab, daß die Patientin in der letzten Woche einen kontinuierlichen Hämoglobinabfall bis auf die Hälfte des Normalen (6,1 mg%) am Tag vor der Entlassung gehabt hatte, ohne daß eine Abklärung erfolgte, ob nicht neben dem perioperativen Blutverlust eine weitere Ursache hierfür in Frage käme, z.B. ein blutendes Magengeschwür durch Streß, keinesfalls abwegig bei dem Krankheitsverlauf. Man hatte sie mit Eisentabletten nach Hause geschickt und im Arztbrief den abfallenden Hämoglobingehalt mit keinem Wort erwähnt. Die Patientin war in den ersten Tagen zu Hause zu schwach, um sich aufrecht halten zu können, und mußte mit dem frisch operierten Arm kriechend zur Toilette robben. Ein weiterer Blutverlust aus einer nicht abgeklärten Blutungsquelle wäre höchstwahrscheinlich tödlich gewesen.
Ich wies eine alleinstehende Patientin, die nach einem Sturz in ihrer Wohnung verwirrt aufgefunden wurde, wegen multipler Prellungen und Hämatome zunächst in die chirurgische Klinik ein mit der Bitte, sie einer neurologischen Abklärung und gegebenenfalls medikamentösen Einstellung zuzuführen, da bei der Patientin sowohl epileptische Anfälle als auch ein Schlaganfall in der Vorgeschichte bekannt waren. Zwei Tage später stolperte die Patientin, immer noch deutlich verwirrt und unsicher auf den Beinen, in meine Praxis. Man hatte sie wegen »Bettenmangels« von einem Moment zum anderen entlassen, keinerlei Untersuchung durchgeführt und die »Beobachtung nach Sturz« für zwei Tage für ausreichend erklärt. Nicht einmal die Venenkanüle hatte man ihr vor der Entlassung entfernt. –
Soweit nur einige ausgewählte Beispiele der Folgen der Mittelumwidmungen für Besatzungszwecke und des entsprechenden Mittelmangels bei der Krankenversorgung im stationären Bereich, aber auch der unerträglichen Arbeitsbedingungen und Überlastung der Krankenhausärzte.
Für mich als Hausarzt bedeuten die frühzeitigen, unangekündigten Entlassungen, v.a. bevorzugt am Freitag mittag, natürlich einen zusätzlichen hohen Aufwand, wenn ich die medizinische und häusliche Versorgung der Patienten ad hoc sicherstellen muß. Es ist auch keineswegs selbstverständlich, daß die Einschaltung eines ambulanten Pflegedienstes zur Entschärfung der jeweiligen akuten Situation von der Krankenkasse genehmigt wird. (Antithrombosespritzen muß sich z.B. jeder Patient selber geben, wenn er nicht anerkannt blind oder geistig oder körperlich behindert ist, ganz egal wie alt, krank, unsicher oder ängstlich er ist.) Oftmals sind ätzende Auseinandersetzung mit der Krankenkasse und dem MDK notwendig. (Der Medizinische Dienst der Krankenversicherung hat die Aufgabe, die flächendeckenden Rationierungen zu überprüfen und zu überwachen, er setzt sich nicht zum geringen Teil aus gescheiterten Ärzten zusammen, die es weder zu einer Klinik- noch Praxislaufbahn gebracht haben und somit die nötige Projektionsneigung gegenüber ihren erfolgreicheren Kollegen aufweisen – man muß diese Typen mal persönlich erlebt haben…)
Hinzu kommen die zunehmenden Anfragen der Krankenkassen zu den Krankschreibungen meiner Patienten, die von mir spätestens nach zwei Wochen Arbeitsunfähigkeit Rechtfertigungen verlangen und immer kurzfristiger und häufiger die prompte ausführliche Begründung sowie Übermittlung sämtlicher Untersuchungsunterlagen an den MDK fordern (dessen Beurteilung der Arbeitsfähigkeit oder -unfähigkeit meiner Patienten rechtlich ausschlaggebend ist, eine moralische Ohrfeige für die nicht-gescheiterten Ärzte übrigens). Grundlage dieser schikanösen Praktiken der Krankenkassen und ihres Medizinischen Dienstes sind die im Dezember 2003 vom Gemeinsamen Bundesausschuß der Ärzte und Krankenkassen neugefaßten ›Richtlinien über die Beurteilung der Arbeitsunfähigkeit‹, von deren Existenz ich bezeichnenderweise aus keinem der umfangreichen KV-Rundschreiben, sondern von einer Krankenkasse erfuhr, mit dem Hinweis nämlich, daß aufgrund dieser rückwirkend ab dem 1. Januar 2004 gültigen Bestimmungen Arbeitslosen nur noch dann Arbeitsunfähigkeit attestiert werden darf, wenn sie nicht 15 Stunden in der Woche einer leichten Tätigkeit nachgehen können. Flankierend zu Hartz IV und »Modernisierungsgesetz« haben also Ärztevertreter und Krankenkassen gemeinsam unter Ausschluß der Öffentlichkeit diese empörende Sonderbehandlung arbeitsloser Patienten beschlossen, die ich jetzt für den demütigenden Ein-Euro-Sklaveneinsatz freigeben soll. Und prompt erhalte ich bei deren Krankschreibung jetzt auch noch die standardisierte »Arztanfrage für Arbeitslose« mit ausführlichen Hinweisen auf meine Pflichten und der impliziten Drohung, nicht auch nur einen irgendwie verwendungsfähigen, vor allem also ohne unmittelbare Todesfolge schikanierbaren Patienten dem Zugriff des Raubstaats zu entziehen.
Nachtrag: Nach Abschluß dieses Berichtes wurde ich zur Ausstellung eines Totenscheins in die Wohnung des anfangs erwähnten 72jährigen Diabetes-Patienten gerufen. Er hatte sich erneut einige Zeit nicht in der Praxis gemeldet und lag, wie ich nun erfuhr, bereits eine Woche tot in seiner Wohnung. Insofern relativiert sich meine im vorliegenden Bericht geäußerte Befürchtung – erblinden kann er jetzt nicht mehr.
1) Siehe KB 121
>1) Siehe KB 121
2) Das Programm, in welches die Patienten durch Verzicht auf Praxisgebühr und Medikamentenzuzahlung, die Ärzte durch Vergütung mit festen Euro-Beträgen statt Punkten, also eine Art Kopfpauschale, gelockt werden, verpflichtet die Teilnehmenden zur Diagnostik und Therapie nach gewissen vorgegebenen Richtlinien. Bisher gibt es diese Programme z.B. für Diabetiker, Asthmatiker und Patienten mit chronischer Herzkrankheit. Wie diese Richtlinien aussehen, kann sich der Leser wohl mühelos vorstellen. Die Diabetikerin beispielsweise, die jetzt die Medikamentengebühr spart, wird dafür in Zukunft mit Billigmedikamenten behandelt, bei den Herzkranken werden die Herzkatheteruntersuchungen reduziert usw.
>2) Das Programm, in welches die Patienten durch Verzicht auf Praxisgebühr und Medikamentenzuzahlung, die Ärzte durch Vergütung mit festen Euro-Beträgen statt Punkten, also eine Art Kopfpauschale, gelockt werden, verpflichtet die Teilnehmenden zur Diagnostik und Therapie nach gewissen vorgegebenen Richtlinien. Bisher gibt es diese Programme z.B. für Diabetiker, Asthmatiker und Patienten mit chronischer Herzkrankheit. Wie diese Richtlinien aussehen, kann sich der Leser wohl mühelos vorstellen. Die Diabetikerin beispielsweise, die jetzt die Medikamentengebühr spart, wird dafür in Zukunft mit Billigmedikamenten behandelt, bei den Herzkranken werden die Herzkatheteruntersuchungen reduziert usw.
3) Medizinischer Dienst der Krankenversicherung.
EUR 4,50
ISSN: 0930-0503
ISBN: 978-3-89484-240-6
(ISBN-10: 3-89484-240-7)
Juli/August 2006