Ketzerbriefe 171

Dezember 2011/Januar 2012



Inhalt

  • In memoriam Saddam Hussein
  • Fritz Erik Hoevels
    Der Mythos vom starken China und den armen schwachen USA
  • Fritz Erik Hoevels
    Nachruf auf Ghaddafi
  • Ulrike Tietze
    Was ist in Syrien wirklich los?
  • Flugblatt: Der Papst
  • Flugblatt: Der Papst und seine Gegenpäpste
  • Interview mit Dr. Anna Ignatius
  • Protestaufruf
  • Rezension von Armin Zadak:
    Carsten Frerk, Violettbuch Kirchenfinanzen
  • Fritz Erik Hoevels
    Pleyber-Christ
  • Kurz und demokratisch

Nachruf auf Ghaddafi

Nach dem feigen Lynchmord an dem ersten und letzten legitimen libyschen Staatschef – sein Vorgänger war ein König, sein Nachfolger ist ein Quisling –, wird er vermißt und betrauert von über 90 % seines Volkes und sogar seiner Gastarbeiter. Ich hätte ihm ein sicheres und würdiges Exil gewünscht.
Nicht, weil ich sein Anhänger wäre oder seine Regierung ungewöhnlich gerecht und weise, ihn selber mit ungewöhnlich vorteilhaften und achtenswerten Qualitäten ausgestattet gefunden hätte (das galt und gilt dagegen für Saddam Hussein, Kemal Atatürk oder Themistokles, von fähigen und konsequenten Führern echter moderner Revolutionen ganz zu schweigen). Aber um sich über die von Hitler in Gang gebrachte Ermordung von mehr als sechs Millionen Juden ohne auch nur eine persönliche Anklage eines derselben wegen eines wirklichen oder erfundenen Vergehens zu empören, müssen diese keineswegs Person für Person (oder auch nur einer davon) den Nachweis erbracht haben, ein irgendwie hervorstechender Edelmensch gewesen zu sein. Es gibt nur kein Recht, jemanden umzubringen, der einem nichts getan hat (aber nicht in den Kram paßt oder vielleicht etwas tun könnte – das kann nämlich jeder!), oder einen Staat mit Waffengewalt anzugreifen, der einem nichts getan hat – beides langt zur Empörung unbeteiligter (oder gar zwangsbeteiligter!) Zuschauer vollauf. Den Libyern wird also übles Unrecht angetan, und ihrem faktischen Staatsoberhaupt auch.
Hinter diesem standen sie in erdrückender Mehrheit, weswegen es – in Gestalt Ghaddafis – seinen im Volk unbekannten, mit der Spitze fremder Bajonette in das Land gepflanzten quislingsförmigen Gegner auch freie Wahlen statt interventengestützten Bürgerkrieg anbot; das mochten sie bzw. die sie vorschiebenden Interventen so wenig wie die hyperhochedlen, ach so wahlgeilen Amerikaner im geteilten Vietnam. (Ähnlich wie es noch nie einen noch so üblen weltlichen Tyrannen oder Papst gegeben hat, der die Äußerung seiner Meinung verbot, gab es auch noch keine US-Regierung, die etwas gegen Wahlen mit sie vorhersehbar begünstigendem Ergebnis gehabt hätte, dafür aber konsequent gegen alle anderen. Beides läßt sich kaum zum Ruhme besagter Tyrannen, Päpste oder US-Regierungen verwenden, wird es aber trotzdem, da sie jeweils Schulen, Sender und Zeitungen beherrschen.) Warum aber Ghaddafi alle freien Wahlen in seinem Lande jedenfalls gegen Marionetten fremder Truppen mehr als haushoch gewonnen hätte, liegt nicht an seinen etwaigen überragenden Qualitäten oder gar seiner etwaigen aufklärenden und befreienden Kraft (so etwas war bei Hussein dagegen zumindest im Ansatz gegeben, sein kompromißloses Bestehen auf religiöser Toleranz und seine Feindschaft gegen groben Obskurantismus belegt es und der Vorher-Nachher-Vergleich illustriert es). Es liegt an etwas viel Simplerem: er sicherte die Öleinnahmen seinem Staat statt anderen Staaten, und er verteilte sie an das Volk dieses Staates und nicht an andere Staaten und den Rest an seinen Hof. An ihren Hof können sie nun zwar die soeben eingesetzten Quislinge nicht verteilen, da man ihnen keine neue absolute Monarchie gestatten wird – die US-Erzdemokraten mögen nur, wenn auch dafür exklusiv heiß und innig, echte Erbkönige, sonst nennen sie die Sicherung persönlicher Unerpreßbarkeit von Staatsmännern durch Abzweigung von Staatsgeldern »Korruption« –, aber erstens bleibt ihnen nach Abzug dessen, was ihre »Paten« ihnen abzunehmen geruhen, gar nicht mehr so viel zur Verteilung an das Volk übrig, und zweitens haben sie, unabhängig von der Verteilung der Erträge, die Kontrolle über das Öl des Landes irreversibel in fremde Hände gegeben. Darum hätten sie jede Wahl gegen Ghaddafi drastisch verloren; diesen Sachverhalt spürte auch der dümmste und faulste Tagedieb von ganz Libyen, von dessen klügeren Bewohnern sowieso abgesehen. Darum bevorzugten die USA und ihre Vasallen beim Angriff auf Libyen Bomben vor Stimmzetteln, den Mord aus der Luft vor der freien Rede auf dem Boden.
    Die Verteilung der durch Ghaddafi in die vormundlose Verfügung des libyschen Staates gelangten Öleinnahmen geschah durch eine äußerst großzügige Optimierung der Infrastruktur: eine vorzügliche und kostenlose Medizinversorgung, eine ordentliche und ebenfalls kostenlose Ausbildung, die, wie in einem zurückgebliebenen Land unerläßlich, reichliche Auslandsstipendien einschloß (auf diesem Wege wurde, was damals noch ging und zugleich mit viel ernsteren Anstrengungen verbunden war, das aus seiner mittelalterlichen Isolation gerissene Japan zum exzellenten Industriestaat), sowie eine breitgestreute Latte faktischer Sinekuren für libysche Staatsbeamte. Die Folge war, daß es leichter war, einen der allerletzten Steinböcke Libyens bei der Balz zu beobachten als einen seiner Staatsbürger bei ernsthaft nützlicher Arbeit. Diese erledigten, bezahlt aus denselben Öleinnahmen, vorwiegend schwarze »Gastarbeiter«, und zwar besser bezahlt und vor allem behandelt als ihre Pendants auf der arabischen Halbinsel und in anderen monarchistischen Stinkeecken der islamischen Welt.
Einen Hof im Luxus müßiggehen zu lassen ist leichter, als ein Volk in bescheidenem Wohlstand müßiggehen zu lassen. Müßiggang ist nicht aller Laster Anfang, aber er ist dafür eine schlechte Grundlage zur Bekämpfung bestehender. Und von denen, die ihnen dringend hätten ausgetrieben werden müssen, schleppten die Libyer genug mit, besonders geistige Trägheit, die sich in Religion umsetzte, und sexuellen Bevormundungswillen, besonders gegen Frauen. Beides hängt zusammen, und so ideal es zur Erhaltung und Herstellung der Knechtschaft ist, so verderblich ist es zur Erlangung und Bewahrung der Freiheit. Ghaddafi hat seine Landsleute in diesen ihren Lastern mehr bestärkt als gestört, auch wenn er das Ergebnis sichtlich unbefriedigend fand; so waren seine Gegenmittel derart inkonsequent, daß sie die vorhandene Spannung eher verschärften als einen Umschwung herbeizuführen, auf dem ein Gedächtnis auch der Besiegten und vom Ausland erneut Geknechteten hätte aufbauen können. (Auch im Irak blieb die innere Aufklärungs- und Freiheitsdosis viel zu gering, obwohl deutlich höher.) Sie bestanden in einer pfiffigen bis einfältigen, sozusagen homöopathisch dosierten Teilsäkularisierung des Islam in Gestalt von Ghaddafis »Grünem Buch«, allen wohl und niemand weh und lächerlich für jeden auch nur mäßig Aufgeklärten, der der Götter und Töne nicht bedarf, aber den Ernst der menschheitlichen Aufgaben erkennt, zu deren Bewältigung nun einmal Disziplin des Geistes und Anstrengung des Körpers nötig ist. Dazu kam die Öffnung der Armee für Frauen nach israelischem Vorbild (strukturell genauer wäre: US-amerikanischem, doch das wäre anachronistisch, da Ghaddafi in dieser Hinsicht etwas schneller war als seine Erzfeinde). Zwar behandeln unsere Großkirchen, besonders die Protestanten, mittlerweile ihre heiligen Schriften ganz analog wie Ghaddafi seinen Islam im »Grünen Buch«, lösen ihn in eine gefällige Sprechblasenmoral auf und hängen ihre knalligsten Wunder und anstößigsten Paradoxe ein paar Dezimeter tiefer, indem sie sie wohlwollend, aber zweideutig allegorisieren oder gar nicht erst wieder aufwärmen; aber sie tun das amtlich und fast monopolistisch und in geordnetem Rückzug, während ein gewöhnlicher Staatschef an dieser Stelle erkennbar seine Kompetenz überschreitet und sich gegenüber dem zähen geistlichen Traditionsapparat sofort als unbefugter Außenseiter bloßstellt. Trotzdem hat man den Eindruck, in der langen Zeit der durch Ghaddafis Wohlstandsstreuung und Existenzsicherheit ermöglichten persönlichen Ruhe und seiner homöopathischen Säkularisierung sei der bis dahin schrille und blutrünstige Islam seines Landes ein wenig aufgeweicht worden und werde sich unter der neuen Fremdherrschaft bzw. dem in der Tat blutrünstigen und holzköpfig inhumanen NATO-Marionettenregime nach irakischem Muster wieder grausam verhärten; Widerstandskräfte dagegen haben die in kollektiver Bequemlichkeit versumpften Libyer in der langen Zeit, die sie dazu hatten, nicht entwickeln können, jedenfalls erkennt man keine, durchaus anders als in dem verelendeten Ägypten (Machfus), Sadawi oder dem grauenhaft finsteren Sudan (Taha, der unvergessen bleiben soll!). Ähnliches dürfte für die Lage der Frauen gelten, die sich ja auch seit der US-Invasion im Irak so drastisch verschlechtert hat, daß jeder Feministin das Herz im Leibe hüpfen muß: endlich wieder sind sie ins Element ihrer »Natur« repatriiert, und für die widernatürlichen Ausbrecherinnen setzt es Dresche! Doch das Entzücken der FeministInnen findet sein Gegenstück in dem unaussprechlichen Ekel, der grenzenlosen Bedrücktheit aller humanistisch und daher egalitär gesinnten Menschen.
Letzteren kam Ghaddafi dadurch entgegen, daß er zumindest gewisse Abteilungen seiner bewaffneten Kräfte für Frauen öffnete; das zeigte auch allen, die seine Äußerungen verfolgten, daß er lernfähig war, auch wenn er die entsprechende Lektion besser schon im Kindesalter gelernt hätte. Denn er hatte kurz zuvor die im Koran festgeschriebene persönliche Unfreiheit und Unbeweglichkeit der Frauen in einem »Spiegel«-Interview damit verteidigt, daß er seinen Hund über Nacht ja auch ohne weiteres frei herumlaufen lassen könne, seine Hündin aber nicht, da diese unerwünschte Schwangerschaften heimbringen könnte. Damit zeige sich die Verschiedenheit der männlichen und der weiblichen Natur; gleiche Behandlung wie Männer könnten Frauen nur beanspruchen, wenn sie sich auch gleichen Belastungen unterzögen, insbesondere als Fallschirmspringer.
Und siehe da, bald danach besaß Ghaddafi eine weithin sichtbare und offenbar verläßliche weibliche Leibwache, und auch andere Posten in den Streitkräften wurden Libyerinnen zugänglich! Irgendjemand muß ihn beim Wort genommen haben, seine Tochter war noch zu klein, seine Adoptivtocher wurde ohnehin auf Befehl Reagans aus der Luft ermordet, wenigstens als »Kollateralschaden«, und so ist es vielleicht seine Drittfrau gewesen, die wesentlich jünger als er war und dahinterstecken mag. (Einem seiner Minister oder Militärkollegen traue ich die Überzeugungsarbeit nicht zu, dadurch ist es möglicherweise wie im Märchen gewesen, wo die Königsfrau, oder wie im Himmel, wo die Gottesmutter bisweilen einiges beim Boß ausrichtet; nur daß in echten Königs-, Scheichs- oder Götterhaushalten etwas analog emanzipatives noch nie vorgekommen ist, ähnlich folgenschwere Resultate einer »Mittlerfunktion« allerdings schon.)
Das Beispiel zeigt zwar, daß Ghaddafi noch lernen konnte, aber auch, daß er mit seiner Aufgabe als Staatschef intellektuell überfordert war, sonst hätte er bemerkt, daß weibliche Menschen zur Antibabypille greifen können, weibliche Hunde aber nicht, es also nur um ungleich verteilte Eifersuchtsrechte ging. Sollte aber in Libyen an dieser Stelle allgemeines Hundeniveau bestanden haben oder kein viel besseres – und ich fürchte, es war so, man kann es ja nachprüfen –, dann wurde dies die Ursache seines – Ghaddafis und seines Landes als souveräner Staat – Untergangs.
Denn als Ghaddafi das Ruder des libyschen Staates nahm, hatte dieser zwei Millionen Einwohner, als er vor den Invasoren fliehen mußte, sechs. Die Treue der Libyer zu Ghaddafi lag in jenem Wohlstand begründet, den er ihnen durch redliche Verteilung der Öleinnahmen unter sie verschafft hatte, während sein eigener Lebensstil exzentrisch sein mochte, aber im Grunde stets bescheiden blieb. Während unsere mittels ihrer »Medien« gewählten Potentaten und deren Statthalter alle Gullideckel verschweißen lassen, Schützen en masse postieren und unendlich schikanöse und für die Anwohner schädliche Sicherheitsexzesse durchziehen lassen, wenn sie eine Straße zu passieren oder eine Stadt mit ihrer erlauchten Gegenwart zu beehren geruhen – man denke an den Papst in Freiburg oder Kaiser Obama in jeder denkbaren Stadt seiner Vasallenstaaten –, fuhr Ghaddafi noch in den letzten Wochen seiner Amtsausübung im offenen Wagen durch die Straßen seiner belagerten Hauptstadt; er fürchtete keine Heckenschützen, und er mußte sie auf der Basis flüchtigster und meist noch dazu spontaner Kontrollen, ganz einfach der Aufmerksamkeit der ihm loyalen Massen, auch nicht fürchten, der Grund wurde gerade benannt. Aber er war dennoch etwas erodiert, Begeisterung hatte sich in gelangweilten Trott verwandelt, der nur unter äußerer Bedrohung noch einmal in aktive Unterstützung der landeseigenen Regierung gegen einen gesichtslosen und finsteren Import zu verwandeln war. Senkt diese Importregierung den libyschen Lebensstandard nur gemächlich, bis er den Massen des Volkes zugunsten eines gesiebten Häufleins entzogen worden ist (und ansonsten von außen verwaltet wird), hat sie wohl keinen sehr opferbereiten Widerstand zu erwarten.
Gewerbefleiß und intellektuelle Disziplin waren nie die Tugenden der Libyer gewesen; Tapferkeit und Genügsamkeit, die Fähigkeit, »arm aber frei« ein stolzes Leben auf Sparflamme zu führen, fast im Übermaß Wohlstand, wie er durch kriegerische Erfolge manchmal plötzlich erzielt wird, wird dann subjektiv als Belohnung normgerechten Verhaltens im allessehenden Sippenverband empfunden (dessen Normen die Religion ihren mystischen Glanz aufgepinselt hat), keineswegs als Belohnung sachgebundener Beharrlichkeit und zielgerichteten Fleißes, wie sie der erfolgreiche Handwerker oder Ingenieur nach gelungener Arbeit oder Planung empfindet; der Erfolg gilt schon deshalb nicht als sachgebunden, weil ein eindrucksvoller mit den mageren Mitteln unergiebiger Weidewirtschaft oder routinemäßiger Transportleistungen einfach nicht zu erzielen ist, durch Kriegsglück, das ja recht eng mit den sippentypischen Tugenden zusammenhängt, aber schon. Da im Gegensatz zu konstruktiver Arbeit dieser Erfolg mit jenen Tugenden aber nur äußerlich und nicht direkt kausal verbunden ist (Geraubtes hat man nicht produzieren müssen), paßt sein Eintritt oder Ausbleiben auch vorzüglich in den Rahmen religiöser Phantasie (deren Drehpunkte Lohn für anerzogenes und Strafen für diesem zuwiderlaufendes Verhalten sind) und gar nicht zur Erforschung kausaler Zusammenhänge zwecks ihrer Nutzung sowie autonomer und aktiver Gestaltung nicht nur vorgefundener Materie, sondern auch des eigenen Lebens. Man findet diese von den Umständen der Geographie und Wirtschaftsweise erzeugte Mentalität auch in vielen der biblischen »Erzvätergeschichten« und weit darüber hinaus, und sie bildet auch die unmittelbare Grundlage der arabischen Expansion, als die gegenseitige Erschöpfung des römischen und des sassanidischen Reiches eine günstige Gelegenheit für sie geschaffen hatte, und somit des Islam überhaupt. Kein Wunder, daß dieser in Libyen einfach nicht verfliegen wollte; so heldenhaft seine Bewohner gegen die faschistischen Truppen gekämpft hatten, so schlecht verdauten sie den ihnen plötzlich durch Ghaddafi zugänglich gewordenen Ölsegen. Ihrer Hände Arbeit verdankten sie ihn ja nicht, und Ghaddafi war kein Revolutionsführer wie Castro gewesen, der ihnen das Produkt ihrer Hände Arbeit wieder zugänglich machte, indem er es an der Spitze aus dem Volk zusammengeströmter Kämpfer in- wie ausländischen Räubern entriß, sondern nur ein mittelalterfeindlicher Politreformator, der einer stinkenden und auslandsabhängigen Monarchie die wahrlich unverdiente Macht wegnahm und sich dann als redlicher Volksfreund erwies. All dies schwang in den Worten Castros mit, der im Gegensatz zu jenem antimonarchistischen Offizier den Zusammenhang sehr viel besser begriffen hatte, als er auf einer internationalen Konferenz einen allzu draufgängerischen Ghaddafi einmal etwas beiseite nahm und ihm sagte: »Mein Freund, ein Sozialismus auf Öl ist einfach etwas anderes als ein Sozialismus auf Zuckerrohr.«
Kurzum: Arbeit, deren Produkt man behalten kann, bewirkt Realismus (und daher dessen Grundlage, die Kunst des Rechnens, lat. ratio), Parasitismus dagegen jenes Oszillieren zwischen Größenwahn und Kleinmut, das sich an Ghaddafi so gut beobachten ließ. Und damit war er ein typischer Vertreter seines Volkes, das er nicht zu erziehen wußte, obwohl er viel Zeit dazu gehabt hatte. Daß er mit dieser Aufgabe intellektuell überfordert war, merkte man währenddessen an vielen Einzelheiten, für deren Masse die obige Hundegeschichte genügen möge. –
Öl und daher, dank Ghaddafi, Wohlstand der Libyer kamen jedenfalls nicht von Arbeit und insofern gewissermaßen von Gott; wenn Arbeit die Alternative zu Gott war, dann empfahl es sich, bei Gott zu bleiben. Das bedeutet aber, sein Leben nicht bewußt und dadurch auch im Konfliktfall gegen alle Traditionsträger in die eigene Hand zu nehmen, sondern, solange grobe Störungen unterbleiben, trantütig weiterlaufen zu lassen, und das erhöht die Kinderzahl.
Diese aber untergräbt den Wohlstand; bei an Kaufkraft gleichbleibenden Öleinnahmen, die nur durch äußerst ruinöse Erhöhung der Fördermenge zu erhöhen wären, ergibt die Verdreifachung der Bevölkerung bei sonst gleichen Voraussetzungen ein Absacken des Wohlstands auf ein Drittel; doch Adam Riese ist in Libyen so wenig eingebürgert worden wie bei unseren »Grünen« und deren Wählern (deren Parasitismus, als analoge Grundlage, auf ihrem vorherrschenden Beamtenstand beruht). Dadurch entstand bei den Libyern allmählich ein Loyalitätsschwund gegen Ghaddafi: wenn wir jetzt nur noch halb so viel bekommen wie vorher, ja sogar bald nur ein Drittel so viel, dann ist seine Regierung bestimmt schlechter geworden und müßte einfach besser sein! Grummel, grummel, maul, maul ... man kennt die Töne auch aus der DDR, die ihre unverhältnismäßige Militärbelastung, wie sie der ganze »Ostblock« zu teilen hatte, durch einen mit riesigen Vorsprüngen versehenen Feind ihrem Volk ebenso verschwieg, erst recht nicht vorrechnete, wie Ghaddafi das mit dessen Karnickeltum tat. Aber natürlich fiel ihm auf, daß er die vielen, zunächst vorzüglichen, ausländischen Ärzte, Ingenieure, Techniker und dazu entsprechend importiertes Hilfspersonal, Geräte und Beamten nicht mehr so großzügig für den verdoppelten, schließlich verdreifachten Bedarf bezahlen konnte wie zuvor, und kam daher – mit mäßigem Erfolg – auf den Gedanken, seine Libyer könnten allmählich auch einmal arbeiten lernen. Doch verwöhnt und zugleich des insgeheim ja immer religionsabträglichen Rechnens entwöhnt wie sie waren, gefiel ihnen das selten oder nie und ließ sie stattdessen maulen. Ich kenne den Fall eines braven Libyers, der aus seinem Land noch nicht herausgekommen ist, welcher von Gott wie Ghaddafi zwar ziemlich begeistert ist, letzterem aber vorwirft, er habe sich vor einiger Zeit »von amerikanischen Beratern« einreden lassen, seine Landsleute »mehr« zur Arbeit anzuhalten. (Da in arabischen Köpfen unterhalb der Spitzenklasse alles Böse von Amerika kommt – wenn es nicht, wie bei einer kleinen Minderheit derselben, alles Gute ist –, muß die Arbeit folglich zum »Bösen« gehören und die Idee zu ihr von außen kommen.) Die Äußerungen liegen etwa zwei Jahre zurück.
Natürlich fiel es auch Ghaddafi auf, daß seine Landsleute zwar tapfer und genügsam sein konnten, im ihnen durch ihn selbst zugänglich gewordenen echten und großzügigen Sozialstaat aber Trantüten wurden, die zu nichts Höherem zu gebrauchen waren. Also zweigte er einen Teil der Ölmillionen dafür ab, die arabischen Staaten zu einigen; seine Idee war, sie allen davon in einem gemeinsamen Verband zukommen zu lassen, welcher dann schließlich bis zur Selbstverteidigungsfähigkeit neben den damals noch bestehenden »Blöcken« heranreifen könne und solle. Dadurch wäre von dem wohlfeilen libyschen Wohlfahrtsstaat freilich nichts mehr übriggeblieben; aber dessen Bewohner nahmen ihm diese (überlibysch gesehen eigentlich guten und hochfliegenden) Pläne nicht übel, denn Ghaddafi sorgte dadurch, daß er sie stets mit Mitspracherechten für seine Person verband, die auf einen festgeschriebenen und unangenehm egalitären Puritanismus islamischer Einfärbung hinausgelaufen wären, daß sie niemals realisiert werden konnten; denn die einheimische Krüppelbourgeoisie, die in seinen beiden mediterranen Nachbarländern so weit herrschte, wie ihr überseeischer Pate das zuließ, war von Egalitarismus wie Puritanismus wenig angetan. Sie regierte ja hoffnungslos heruntergekommene, gründlich wimmelnde Weltecken, in deren auf Sparflamme dahinköchelnden Menschenmassen alle Ölmilliarden der Welt versickert wären, und Egalitarismus war in diesem Meer von Armut, besonders der ägyptischen, das allerletzte, was sie brauchen konnte. (Dagegen könnte ein ägyptisches Volk von der Größe der pharaonischen Glanzzeit, wenn es nur seine dann mit weitaus größeren Flächen gesegnete Landwirtschaft ordentlich betriebe, was es ja gewohnt ist, allein von den Einnahmen des Suez-Kanals herrlich und in Freuden leben; obwohl es keinen Tropfen Erdöl hat, könnte es von seinem Assuan-Staudamm her alle seine Maschinen rund um die Uhr laufen lassen, und mit der bei seinen Wüstenflächen ja problemlosen Sonnenenergie-Versorgung könnte es noch dazu, der Nil reicht ja wieder, auch seine dann ca. 500.000 Wasch- und Spülmaschinen herrlich großzügig in Gang setzen, von echten Glühbirnen rund um die Uhr gar nicht erst zu reden. Aber das gefällt auch der krüppligsten wie der entwickeltsten Bourgeosie nicht, da gehorchte sie im Notfall selbst einem egalitären Genügsamkeitsprediger Ghaddafi noch lieber, sogar einem Bluthund Noske oder Hitler, Kerlen letzterer Sorte in Wahrheit allerdings sogar relativ gerne, da ihnen das ärgerlich egalitäre Element fehlt.)
Nun, aus Libyen als der Keimzelle der arabischen Einheit wurde nichts – daß sie auch eine Klassenbasis braucht und, wenn bürgerlich oder kleinbürgerlich (proletarisch geht ja nicht mangels eigener Industrie), keine Feudalparasiten brauchen kann, welche aber Uncle Sam's wuselnde Lieblingsschützlinge sind, hat sich Ghaddafi wohl keine Sekunde lang klar gemacht, und hätte er es doch versucht, hätte ihm bestimmt irgendeine Sure im Kopf dazwischengequäkt, da der Koran Klassen leugnet und vertuscht und Königen nicht sehr feindlich gesinnt ist. Also versuchte er sich in der Unterstützung revolutionärer Bewegungen mit besagtem Geld, zunächst etwas wahllos, aber nicht immer unvernünftig, in der vagen Hoffnung, daß deren Erfolg auch der arabischen Einheit diene. Das war nicht ganz falsch, denn Hauptfeind der arabischen Einheit sind die USA – man bezieht sein Öl gerne aus Staaten ohne Atomflotte, d. h. solchen, die sich nicht wehren können, und außerdem ist »divide et impera« ein alter und ernster imperialistischer Grundsatz, von jedem Öl oder sonstigen begehrenswerten Dingen einmal ganz abgesehen. Ebenso sind die USA eifrige und wirksame Feinde aller Freiheitsbewegungen, ganz wie das zaristische Rußland das im 19. Jahrhundert in Europa war; und da die Feinde meiner Feinde meine Freunde sind, was lag da näher als deren Unterstützung? Allerdings fiel Ghaddafis Diagnose einer Freiheitsbewegung immer arbiträrer aus, und so verzettelte er sich schließlich in Kleinkriegen mit schwachen Nachbarn, ohne irgendjemandes Freiheit selbst im Siegesfall damit voranbringen zu können; aber da er auch echte Freiheitsbewegungen unterstützt hatte, z. B. die seither und auf der Grundlage sauberster Wahlmehrheiten regierende SWAPO, hatte er sich die Todfeindschaft der USA zugezogen. Mit seiner munteren Einmischung in auswärtige Angelegenheiten rund um den Globus hatte sie sich der frisch gebackene Herr über echte Ölmilliarden sicherlich zum Vorbild genommen, nur weil er zugleich Oberhaupt eines formell ebenso souveränen Staates war; er hatte aber kindlicherweise nicht bedacht, daß diese Souveränität nur eine Funktion des seit einer Weile sehr gefährdeten atomaren Patts war, wie diejenige aller anderen »blockfreien« Staaten auch. Mit der Vernichtung des schwächeren Blocks mußte die Rache des stärkeren an jenen Staaten kommen, die ihm im Schutze jenes Patts eine lange Nase gedreht hatten, und sie fiel grauenhaft und gründlich aus. Irak und Jugoslawien wurden die ersten Opfer, Indien ergab sich erwartungsgemäß kampflos, ein paar Staaten von Persien bis Nordkorea, Weißrußland bis Namibia stehen noch auf der Speisekarte, bis am Schluß China drankommt, und jetzt ist, lang ersehnt, eben Libyen an der Reihe.
Armer Ghaddafi, der Du bei vielen anständigen und etlichen häßlichen Zügen doch immer ein wenig der Kasper unter den Staatschefs der Welt gewesen bist – der Du Dich, weil es so in irgendwelchen Gesetzestexten und internationalen Verträgen, also wertlosem Papier, geschrieben steht, für ebenbürtig mit den Chefs der USA oder dessen Erz-Schützlings Israel gehalten hast, die ihre Mordkommandos außerhalb ihrer Grenzen überall zwischen Dubai und Pakistan herumballern lassen, woraus Du die schlechte Idee ableitetest, das dann halt auch zu dürfen! Na ja, als man dann Dein Land vom internationalen Flugverkehr abschnitt, bist Du ja sehr demütig zu Kreuze gekrochen, aber die Feinde aller staatlichen Souveränität außer ihrer eigenen sind rachsüchtig und nachtragend wie Iwan der Schreckliche. Deine Buße hat Dir also nichts genützt, so wenig wie Deine zweifelhafte Neutralität bei der Vernichtung des stolzeren Irak oder Deine Islamtreue. Sicher, Besseren als Dir, wie z. B. den beiden letzten Präsidenten Südjemens, hat das Gegenteil auch nichts genützt, aber wenn man sie nicht gezielt vergißt, dann wird man ihrer immer mit ungeteilter Achtung gedenken. An Dir bleibt aber immer ein Fetzen Narrengewand kleben.

Von Fritz Erik Hoevels

EUR 4,50
ISSN: 0930-0503
Dezember 2011/Januar 2012

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