Freuds Schlüssel zur Dichtung

Drei Beispiele: Rilke, Lovecraft, Bernd

Peter Priskil

Sigmund Freud hat die geisteswissenschaftlichen Gebiete – Religion, Geschichte und Literatur – einmal als die 'Kolonien' der psychoanalytischen Forschung bezeichnet. (...) Jene 'Kolonien', insbesondere die Literatur, liefern eindrucksvolle Bestätigungen für die Richtigkeit aller von der authentischen Psychoanalyse getätigten Aussagen – der Existenz des Unbewußten, der infantilen Sexualität, des Ödipuskomplexes, um nur die allerwichtigsten Erkenntnisse zu nennen – und gewähren eine Vorstellung davon, wie vielfältig die Anwendungsmöglichkeiten der Psychoanalyse sind.



Inhalt

  • Persönliches Vorwort
  • Infantiler Sexualkonflikt und Regression in Rainer Maria Rilkes Werk (1993)
  • Das Grauen bei Howard Phillips Lovecraft
  • »Bin das furchtsamste Tier auf Erden ...« –
    Das Selbstzeugnis eines religiösen Melancholikers (1991)
  • Nachweise

Persönliches Vorwort

Im Dezember 1995 sagte die renommierte Library of Congress in Washington zum ersten Mal in ihrer Geschichte eine Ausstellung ab. Ihr Thema sollte Sigmund Freud sein, doch nun sollten angebliche »Budgetprobleme« dieses Vorhaben plötzlich vereitelt haben. Man mußte sich schon etwas mehr bemühen, um herauszufinden, daß sich hinter dieser lapidaren Zweizeilen-Meldung ein Fall unverfrorener Zensur verbarg. Im Vorfeld dieser Ausstellung hatten 50 »prominente Freud-Gegner« mit Unterstützung der Medien gegen die Ausstellung mobil gemacht und sogar die Einladung der Aussteller »zur Mitarbeit« – was ja wohl heißt: zur Verhunzung des Themas – ausgeschlagen. Diesmal mußte es Zensur sein; die Zeit war offensichtlich dafür reif. Unter den Wortführern für das Verbot tat sich ein Psychiater hervor, der der Psychoanalyse jede Wissenschaftlichkeit absprach, ferner die amerikanische Oberfeministin Steinem, die Freud für »schwer gestört« hielt, und ein sogenannter Literaturwissenschaftler, der der Wissenschaft Freuds »sexuelle Paranoia« attestierte. Dieses Bündnis aus Vertretern der Psychologenkaste, Feministinnen und verbeamteten Lohndenkern verrichtete damit eine Arbeit, die die Kirche mit ihrem Index librorum prohibitorum jetzt noch nicht hätte leisten können. Es ist ein Zeichen für die Dekadenz der Gegenwart – einen vergleichbaren globalen Niedergang kennt man nur aus der römischen Spätantike, die als wesentlichstes Fäulnisprodukt das Christentum hervorbrachte –, daß in Staatsdiensten stehende Quassler und Hausfrauen darüber befinden können, was Wissenschaft ist und was die Öffentlichkeit interessieren darf. Nicht weniger bezeichnend ist, daß sich fast niemand gegen diese Bevormundung zur Wehr setzte. Also wurde zensiert. Man fühlt sich an jene Episode erinnert, als bei einem Kongreß der Psychiater im Jahre 1910 der Geheime Medizinalrat Weygandt schon beim Wort »Psychoanalyse« mit der Faust auf den Tisch schlug und schrie: »Dies ist kein Diskussionsthema für eine wissenschaftliche Versammlung, dies ist Sache der Polizei.« Auf anderen Kongressen dieser Zeit kam man zu dem Ergebnis, Freuds Werk sei Pornographie und der einzige Ort für ihn und seine Schüler sei das Gefängnis.
Tatsächlich sind die heutigen Verhältnisse viel schlimmer. So bösartig die Angriffe der monarchistischen Ärzte auf die Psychoanalyse auch waren, so hatten sie doch den einen Vorteil bekennender Reaktionäre: Sie machten aus ihrer zweifellos finsteren Absicht kein Hehl, besaßen als Personen Konturen. Jedermann wußte seinerzeit, daß es hier um den Kampf zwischen Autoritätsgläubigkeit, Moral und Irrationalismus auf der einen, Rationalität, Wissenschaftlichkeit und Selbstbestimmung auf der anderen Seite ging. Freud selbst setzte die Tragweite seiner Entdeckungen mit jenen von Kopernikus und Darwin gleich, und seine Feinde und Anhänger teilten, ausgesprochen oder nicht, diese Ansicht. Es ging, dies war allen Beteiligten klar, um die Auseinandersetzung zwischen Wissenschaft und Religion, Erkenntnis contra Denkverbot, und entsprechend stand das Argument gegen die Gewalt. Ebenso klar war, daß bei dieser Auseinandersetzung nur eine Seite siegen konnte, kein Kompromiß denkbar war. Es ging letztendlich um die Frage, ob der Mensch die Selbstbezeichnung sapiens sapiens verdiente oder ob es bei seiner Schafsqualität als Taufobjekt und Untertan blieb. Heute dagegen sind die Konturen verwischt. Was gegen Freuds Wissenschaft ins Feld geführt wird, ist meist nicht falsifizierbar. Oder anders ausgedrückt: Man kann einen Scheißhaufen nicht an die Wand nageln. Daß der Begründer einer Wissenschaft »schwer gestört« gewesen sein soll – dies immerhin aus dem Mund einer gewesenen Schönheitskönigin, deren »Kritik« repräsentativ für das Niveau der »Auseinandersetzung« ist –, sagt nichts über den Wahrheitsgehalt der Psychoanalyse aus, soll es auch nicht. Es ist, wie so häufig, eine (dann noch schäbige und niederträchtige und unzutreffende) Aussage ad personam, nicht ad rem. Dieselbe Dame hätte sich wohl genauso dagegen verwahrt, daß der Mensch vom Affen abstammt, weil sie doch – der Beweis – Miss America oder sonstwas geworden ist, und welcher Schimpanse könnte das je von sich behaupten ... Bespeiung und Argument sind nicht kompatibel, und gegen Dummheit, sagt das Sprichwort, kämpfen selbst die Götter vergebens.
Wer sich heute ernsthaft zur Psychoanalyse äußern will, muß, um Mißverständnisse zu vermeiden, erst einmal darlegen, was sie nicht ist: Sie ist keine Methode zum Geldscheffeln, hat nichts zu tun mit dem Goldkronenlächeln einiger Raffzähne, die Stroh zu Devisen spinnen, das heißt das Elend ihrer Patienten in fette Konten verwandeln. Sie hat erst recht nicht das geringste zu tun mit allem, was sich Psychologe nennt; wer Freuds Wissenschaft am zuverlässigsten meiden will, muß sich in die Hände der »Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung« (IPsaV) und ihrer Untergliederungen begeben. Sie ist auch nicht in erster Linie eine »Redekur« mit langer Behandlungsdauer und ungewissem Ausgang; zwar wurden alle Erkenntnisse in der Patientenanalyse gewonnen, doch läßt sich ihre Anwendung nicht darauf beschränken. Die Deformation der Menschen zu realitätsuntüchtigen, denkgehemmten, genußunfähigen Subjekten, eben zu psychisch Kranken, hat ihre Wurzeln in der Gesellschaft, genauer: in der Unterdrückung sexueller Wünsche des Kindes primär in der Familie. Jede von Freud und seinen Schülern mitgeteilte Fallanalyse bestätigt diesen Sachverhalt; hierin liegt die Sprengkraft der Psychoanalyse sowie der Grund für ihre ebenso heftige wie inkompetente Anfeindung verborgen. Schließlich hat die Psychoanalyse nichts mit dem hochgestochenen Phrasenschwall von Lehrstuhlinhabern zu tun. All dies sind Resultate eines Zersetzungsprozesses, die von der Psychoanalyse nichts als die Worthülsen übriggelassen haben. Und da man so schnell mit dem Vorwurf der »Voreingenommenheit« und »Parteilichkeit« konfrontiert wird, schaute ich während der Niederschrift dieses Vorworts in die Augustnummer der Zeitschrift ›Psychologie heute‹. Von Freud kein Wort, jedenfalls nichts Nennenswertes, dafür der groß aufgemachte Artikel eines sächsischen Junginquisitors über die »Sektengefahr« in Ostdeutschland. Ich legte das Blatt mit dem angemessenen Ekel wieder aus der Hand, mit dem Bild vor Augen, wie die »seelenzerfasernde Psychoanalyse« des »Juden Freud« ins Feuer geworfen wurde. Dann fiel mir noch ein, daß der alte Freud, als die Gestapo seine Tochter auf internationalen Druck hin freilassen mußte, in Tränen ausgebrochen sein soll. Die Phantasien, wie mit diesem Psychologenblatt und seinem Pfaffendreck zu verfahren sei, sollen hier nicht weiter ausgeführt werden. Aber das Gefühl, beschmutzt worden zu sein, wollte für den Rest des Tages nicht mehr weichen.
Was also ist die Psychoanalyse? Das erfährt man am besten in den Schriften ihres Begründers, über den in den USA also keine Ausstellung stattfinden darf. Nach mehr als einem halben Jahrhundert der Zersetzung und Verunstaltung seiner Lehre ist jetzt offenkundig die Zeit angebrochen, wo man Hand an die Originalwerke legen kann; sie sollen, nachdem man sie gründlichst entstellt, verzerrt, der Lächerlichkeit preisgegeben und zerquasselt hat, dem Vergessen anheimgegeben werden. Das ist der wichtigste Unterschied zu den wilhelminischen Ärzten mit ihrem Furor teutonicus gegen die Psychoanalyse, die vor diesem Hintergrund sich schon fast vorteilhaft abheben. Bleiben wir aber noch einen Moment bei »God's own country«. Freud stand diesem Land mit seinen »unbegrenzten Möglichkeiten« – es ist wahr: nichts ist unmöglich, auch nicht die Unterdrückung einer Freud-Ausstellung in diesem Hort der Freiheit – stets skeptisch und reserviert gegenüber. In einem Gespräch bezeichnete er die Vereinigten Staaten einmal als »gigantischen Irrtum« und zielte damit auf den Nimbus ab, mit dem sich dieses Land bis heute gerne umgibt: der uneingeschränkten Machbarkeit und des hemdsärmeligen Pragmatismus', dem Erkenntnisse nur dann etwas gelten, wenn sie praktisch umzusetzen sind – meist für einen schlechten Zweck. Zu dem Mißtrauen, mit dem man dort seiner Wissenschaft begegnete, führte er darüber hinaus aber einmal brieflich aus: »Die sexuelle Moralität, wie die Gesellschaft, am extremsten die amerikanische, sie definiert, scheint mir sehr verächtlich. Ich vertrete ein ungleich freieres Sexualleben, wenngleich ich selbst sehr wenig von solcher Freiheit geübt habe [...] Die Betonung der sittlichen Anforderungen in der Öffentlichkeit macht mir oft einen peinlichen Eindruck. Was ich von religiös-ethischer Bekehrung gesehen habe, war nicht einladend ...« Diese zwei Zitate wurden vorgeführt, um vor dem Hintergrund der aktuellen Zensur zwei Wesensmerkmale der Psychoanalyse zu illustrieren: Erstens ihre Wissenschaftlichkeit. Wie jede andere Wissenschaft würde sie aufhören, eine solche zu sein, wenn sie sich bei der Ergründung eines Sachverhaltes nach staatlichen und religiösen Vorschriften oder irgendwelchen Verwertungskriterien ausrichten würde – dies der »Irrtum« des amerikanischen Utilitarismus. Zweitens aber: Ihre an einem objektiven Gegenstand – den neurotischen Erkrankungen – gewonnenen Erkenntnisse stehen im Dienst der Freiheit und Selbstbestimmung des Menschen. Er taugt dadurch tendenziell nicht mehr zum Untertanen.
Mit der Entdeckung des Unbewußten – dem, »was man nicht wissen darf«, den verdrängten sexuellen und aggressiven Wünschen des Kindes und den elterlichen Strafandrohungen, die das bewußte, zielgerichtete Denken und Handeln stören, beeinträchtigen und lähmen – ist es möglich geworden, die individuelle Geschichte der Persönlichkeitszerstörung nachzuvollziehen. Die Entdeckung und Würdigung der infantilen Sexualität sowie der zentralen Rolle der Sexualunterdrückung lenkte den Blick auf die gesellschaftlichen Wurzeln des allgemeinen Elends und – auf deren Nutznießer, insbesondere die Religion. Mit dem Zuwachs an Rationalität und dem angstfreien sexuellen Erleben (damit sind die unwirksam gemachten Störmanöver des Über-Ichs gemeint; die gesellschaftlichen Einschränkungen wie menschenunwürdiges Wohnen, Gängelung der Jugendlichen, § 218 usw. müssen erst noch beseitigt werden) schwinden die Möglichkeiten der Fremdbestimmung, wächst die Ich-Stärke: der Mensch wird wieder »Herr im eigenen Hause«. Die Finstermänner und -frauen aller Schattierungen haben dies intuitiv und zielsicher erfaßt, daher ihr schäumender Haß auf die authentische Psychoanalyse – von der, sieht man von den Publikationen dieses Verlages und wenigen anderen Ausnahmen ab, nichts mehr übriggeblieben ist – und auf ihren Begründer 1).
Es ist hier nicht der Ort, im einzelnen auf die zentralen Inhalte von Freuds Wissenschaft und die Geschichte ihrer Zerstörung einzugehen; die beste Einführung in die authentische Psychoanalyse bieten immer noch die Werke ihres Begründers. (Die Schrift von Fritz Erik Hoevels »Der Ödipuskomplex und seine politischen Folgen« ist zum Einstieg auch nicht schlecht, wie mein eigenes Beispiel beweist – siehe unten. Es ist jedenfalls eines der sehr seltenen Beispiele dafür – der tote Freud ist ja längst in einen ziemlich vagen, aber auf jeden Fall fernen Klassikerolymp deportiert –, daß die Psychoanalyse, wie schwach auch immer, noch authentisch fortlebt, was hoffentlich auch das vorliegende Buch beweisen kann. Doch neben den Gedanken tritt allmählich sehr kräftig die pure Gewalt.) Es bedarf nicht nur der Wißbegier und Disziplin, um sich die Grundlagen der Psychoanalyse anzueignen, sondern mittlerweile detektivischer Spürfindigkeit und einer Portion Glück, um an die unverschmutzten – das heißt ideologie- und verleumdungsfreien – Quellen heranzukommen. Denn im Zeitalter der Büchertischverbote, der Anzeigenzensur in den monopolisierten und faktisch gleichgeschalteten Massenmedien, der unauffälligen, dafür aber gründlichsten »Säuberung« der Buchhandlungen in der deutschen Geschichte, der Beschlagnahmung von Buchversendungen durch die Geheimpolizei, des angedrohten Ausschlusses von Büchermessen aus politischen Gründen usw. usw. gleicht der Weg zu den Publikationen dieses Verlags dem Robben durch vermintes Gelände. Einen anderen Zugang zu aktuellen Schriften in der Tradition Sigmund Freuds und seiner besten Schüler – vor allem Wilhelm Reich (Achtung: die meisten seiner Veröffentlichungen sind verfälscht; man hält sich besser an die wenigen, hier und da noch erhältlichen Raubdrucke), Abraham und Ferenczi – gibt es nicht. Der Interessierte muß also die doppelt schwierige Aufgabe bewältigen, bei dem Schwall täglicher Totsagungen und Verdrehungen der Psychoanalyse nicht den Überblick zu verlieren und durch das immer undurchdringlicher werdende neudeutsche Zensurdickicht seinen Weg zu bahnen 2).
Anstelle weiterer grundlegender Ausführungen, die in aller wünschenswerten Klarheit in den zuvor angeführten Schriften zu finden sind, möchte ich lieber anhand einiger persönlicher Beispiele schildern, mit welchen Hindernissen der Weg zu Freuds Wissenschaft gepflastert ist.
Als nach der Finsternis des Hitlerfaschismus und seines katholisch-amerikanischen Nachfolgetäters Adenauer die Werke Freuds in Deutschland erstmals wieder erhältlich waren und in der Öffentlichkeit zunehmend auf Interesse stießen, war ich Schüler der Mittelstufe in einem süddeutschen Provinzgymnasium. Was uns an Ausläufern der gesellschaftlichen Entwicklung dort erreichte, waren Gerüchte von Unruhen in den großen Städten, die mit dem SDS, der Berliner Kommune, kurz: der landläufig so bezeichneten »Studentenbewegung« in Zusammenhang standen. Dies war freilich weniger als die halbe Wahrheit. Denn die Unruhen an den deutschen Universitäten waren der Ausdruck eines tieferliegenden gesellschaftlichen Wandels, der breitere Kreise der Bevölkerung erfaßt hatte und sich vor allem durch eine Ausweitung der persönlichen Freiheit auszeichnete, die atmosphärisch spürbar war. Damit sind weniger die explizit politischen Demonstrationen gemeint – daß sich ein so kleines und tapferes Volk wie die Vietnamesen so heldenhaft gegen eine hochgerüstete, bösartige Militärmaschinerie der USA zur Wehr setzte, war allerdings äußerst ermutigend und vorbildhaft (der Gedanke, Ho Chi Minh vor ein »internationales«, d.h. US-abhängiges Tribunal zu schleppen wie jetzt den Serbenführer Karadzic, hätte hauptsächlich Empörung und Verachtung ausgelöst) –, sondern die Tatsache, daß die Einschüchterung durch Kirche und Staat nicht mehr im selben Maße wie zuvor verfing. Mit der Pille schwanden die Erpressungsmöglichkeiten faktisch, war die Sexualität von der Schwangerschaftsdrohung befreit, eine ungeheure Bedrückung nicht nur von den Frauen, sondern von der Jugend insgesamt genommen. In dieser Zeit verschwand Bismarcks schändlicher Kuppeleiparagraph in der Versenkung, der den Geschlechtsverkehr unverheirateter Jugendlicher unter Strafe stellte, und die Demonstrationen gegen den § 218 (»Mein Bauch gehört mir«) waren Ausdruck des im gesellschaftlichen Durchschnitt gestiegenen Selbstbewußtseins und Freiheitswillens. Daß ein Lehrer seinen »minderjährigen« Schülern die Pille als zuverlässigste Methode zur Empfängnisverhütung empfahl, ihre Wirkmechanismen erläuterte und die Nachteile der anderen Antikonzeptiva aufzählte (»Schwangerschafts-Roulette«), ohne dafür gemaßregelt zu werden, sagt mehr über den Zuwachs an Freiheit aus als tausend Abhandlungen zum Thema. Augenfälligster Ausdruck dieses Wandels war die Durchbrechung des Nacktheitstabus; das Adenauergrau mit seiner Verteufelung der Haut war gefallen. Minirock, Shorts, Transparenzblusen und Nackte an den Seen zeigten an, daß die Ära der verschwitzten Scham, der Prüderie, Heimlichkeit und Maßregelung schwere Schläge erhalten hatte und sich auf dem Rückzug befand.
Freiheit macht denkfreudig. Dies war die Zeit, in der das Interesse der Öffentlichkeit an der Psychoanalyse gewaltig stieg; wie groß die Nachfrage war, kann man an den Auflagenzahlen (und Erscheinungsjahren!) der nun bald auch als Taschenbücher erhältlichen Werke Freuds sehen. Erst sehr viel später erfuhr ich, daß Raubdrucke von Wilhelm Reich, die vom Bahnhof zum nahe gelegenen Universitätsgelände transportiert werden sollten, schon auf dem Weg dorthin von Passanten (also nicht in erster Linie Studenten!) restlos aufgekauft wurden. Davon, wie von den tieferen Zusammenhängen dieses Umschwungs, wußten wir natürlich nichts; die Universitäten waren ein vorläufig weit entfernter, zudem noch recht vager Hort der Freiheit. Aber die Gegenseite hatte schon längst ihre Maßnahmen getroffen (und man versteht nun vielleicht noch einmal besser, warum flächendeckende Berufsverbote, Verfassungsbrüche, Grundrechtsabbau, Ausbau des staatlichen Bespitzelungsapparates sowie der Feminismus die notwendigen Etappen zur neototalitär verkrebsten BRD der Jetztzeit waren).
Jedenfalls mußte damals an die Schulen der Auftrag gegangen sein, die Schüler gegen den aufkommenden Freiheitsgedanken zu impfen, immun zu machen. Verschweigen war nicht mehr möglich; Strafandrohungen und erhobener Zeigefinger hätten die Attraktivität des »Antiautoritären«, Verbotenen nur noch erhöht. Man mußte also klüger zu Werke gehen. Während des Kalten Krieges hatten westliche Geheimdienste eine Studie in Auftrag gegeben, mit der herausgefunden werden sollte, auf welche Weise eine verbotene, aber attraktive Anschauung – der Kommunismus – propagandistisch am wirkungsvollsten diskreditiert und unschädlich gemacht werden könnte. Das Ergebnis lautete: Eine Ansicht wird dann am effektivsten neutralisiert, wenn sie von einem als solchen bekannten Gegner dieser Anschauung objektiv und neutral vorgestellt und dann höchstens diskret verurteilt wird. Das sachliche Referieren unterläuft die allgemeine Erwartungshaltung (»jetzt wettert wieder ein Pfaffe und erzählt Geschichten vom lieben Gott«) und gibt dem Referenten Vertrauenskredit, den er dann bei seiner Verurteilung der Idee ausnutzt (»wenn selbst der – d.h. ein so objektiver und neutraler Mann – das sagt, dann muß es ja so sein«). So wurde unsere Schulklasse – und beileibe nicht nur unsere – zum Experimentierfeld des Kalten Krieges. Die Aufgabe lautete, die Psychoanalyse zu diskreditieren, und der Propagandaauftrag erging an einen Pfarrer, einen progressiven protestantischen Pfaffen, der mit allerlei Schnickschnack (z.B. Musikhören im Unterricht) die Sympathien der meisten Schüler ohnehin auf seiner Seite hatte.
Nun war der Religionsunterricht kein Happening mehr. Mit getragener und ernster Stimme berichtete der Pfaffe von der Psychoanalyse, ihrer Aktualität, Brisanz; berichtete, daß ihre Kenntnis im Sinne eines ganzheitlichen Menschenbildes unbedingt erforderlich sei. Als Textgrundlage diente eine eigens für Schüler erstellte Broschüre – was noch einmal dafür spricht, daß diese Kampagne geplant und von langer Hand vorbereitet war –, »Das Spukschloß im Innern«. Dort wird zwar einleitend festgestellt, daß »der psychoanalytische Ansatz« (man beachte die Wortwahl: ein »Ansatz« ist keine Wissenschaft) heute »sehr umstritten« sei, dann aber folgte, mehr oder weniger korrekt, ein Abriß über das Modell der psychischen Instanzen (»Ich – Es – Über-Ich: Die seltsame Sprachlehre des Herrn Freud«), über die Entwicklung der infantilen Sexualität, die Hauptformen neurotischer Erkrankung usw. Der Pfarrer hielt sich weitgehend an diese Vorgabe. Bei der Frage der Sexualität und der Bedeutung der Sexualunterdrückung, die uns natürlich am meisten interessierte, verfiel das Lehrbüchlein allerdings schon in einen orakelhaft-warnenden Ton: Es gebe Triebe, »die sehr gefährlich werden können« (ohne auszuführen, warum und für wen); »deswegen hat das Ich eine Zensur, eine Kontrolle eingerichtet« – als ob es sich um eine willentliche Entscheidung für einen ausgewogenen Seelenhaushalt handle. In der Folge war dann »von der reinigenden Wirkung des Sports« die Rede und davon, daß »ein bestimmtes Maß an vernünftiger Führung durch die Erwachsenen besonders notwendig« sei – diese Sprüche waren bereits aus den sogenannten Auf- klärungsbroschüren aus Adenauerzeiten bekannt und im allgemeinen nicht beliebt. Hier übertraf der Pfaffe die Vorgabe und sagte, die Lehre Freuds sei im Grunde schon o.k., dann aber folgte der Satz: »Vor dem Wilhelm Reich müßt ihr euch hüten; der reduziert alles auf das Sexuelle.« Niemand von uns hatte bis dahin diesen Namen gehört, niemand fragte aber auch weiter danach oder hatte in der Folge je versucht, ein Buch dieses Sittenverderbers zu bekommen. Der Pfaffe hatte seinen Impfauftrag mit hundertprozentiger Erfolgsquote durchgeführt. Zur Erfolgskontrolle wurde eine Klassenarbeit (in Religion!) geschrieben. Ich hatte wie die meisten das Instanzenmodell brav referiert, sodann für eine »demokratische Erziehung« der Jugendlichen (»die vernünftige Führung« durch Erwachsene; siehe oben) plädiert, den Extremen der »autoritären« und »antiautoritären« Erziehung eine Absage erteilt und damit wie die meisten die Note »sehr gut« bekommen. Die Schule als ideologische Indoktrinationsanstalt hatte sich im Kampf um die Herrschaft in den Schülerköpfen bewährt. Der abschließende Leitsatz der Broschüre lautete: »Insbesondere muß eine Distanzierung von Affekten wie Angst und Wut erfolgen, um eine bessere Ausgangsposition für das kritische Denken zu erreichen«; dies bedeute »Demokratisierung im Sinne Mitscherlichs«. Man würdige an dieser Stelle, wie die Schule den Kalten Krieg im Klassenzimmer gewann, Unrechtsempfinden und Freiheitsbestreben der Schüler mit Hilfe eines Pfaffen einlullte und sie auf die Verzichtformel eines weinerlichen Psychologen verpflichtete. Eine Anleitung von außen, eine Schulung an den Originaltexten, insbesondere die Kenntnis der verfemten Reich-Texte hätte diese Auseinandersetzung noch einmal spannend machen können (wie groß wäre dann aber das Geschrei über die »Indoktrination« an den Schulen gewesen!). So war der tendenziöse Kommentar an die Stelle der Kenntnis durch eigene Anschauung und Überprüfung getreten, wobei die Lehrer – die »Machtverehrer, Hirnverheerer« Brechts – den Zeitumständen geschuldete Zugeständnisse machen mußten, um an ihr Ziel zu gelangen. Heute reicht dafür schon eine Feministin und gewesene Schönheitskönigin.
Später, an den Universitäten, wiederholten sich diese Abschreckungsmanöver unter nur geringfügig veränderten Vorzeichen. Noch waren die gesellschaftlichen Umstände in den siebziger Jahren so beschaffen, daß man sich dem Schein nach in den geisteswissenschaftlichen Fächern mit der Psychoanalyse auseinandersetzte. Allerdings bestand die Diskreditierung der Psychoanalyse nun in erster Linie darin, daß ihre angeblichen akademischen Vertreter – oft Mitglieder der örtlichen IPsaV – durch ihre abgrundtiefe Inkompetenz und selbstverliebte Geschwätzigkeit auf jeden ernsthaften Menschen abschreckend wirken mußten: wenn das die Vertreter dieser Lehre waren, dann konnte es mit ihr auch nicht weit her sein. Symptomatisch ist der Fall eines Freiburger Germanistikprofessors, der allgemein als Fachmann auf diesem Gebiet gehandelt wurde. Er hatte als junger Dozent aufmerksam die außerhalb der Lehrveranstaltung stattfindenden Vorträge eines SDS-Aktivisten und Freudianers über die Psychoanalyse und ihre Anwendung in der Literaturwissenschaft verfolgt, dies als Marktlücke für seine akademische Karriere entdeckt und sie mit entsprechender Nachhilfe in diesem ihm recht fremden und fremd gebliebenen Gebiet zielstrebig ausgebaut. Seine Habilitation über die Lyrik des jungen Brecht ist für eine akademische Schrift erstaunlich lesbar und enthält einige durchaus interessante Gedanken, über deren Herkunft er sich wohlweislich in Schweigen hüllt. Die Seminare dieses Kriegsgewinnlers der Studentenbewegung zur »psychoanalytischen Literaturinterpretation« waren in jener Zeit berstend voll; er präsidierte diesen Veranstaltungen als eine Art jung gebliebener Sonnyboy, der bei Kontroversen meist vielsagend lächelte. Sein Spezialgebiet war der »Narzißmus«, mit dem er gerne kokettierte; einmal von einer Studentin auf seine Arroganz angesprochen, sich wie ein Papst aufzuführen, bewies er unter schepperndem Gelächter auch lateinische Restkenntnisse: »Háhahahà! Papst heißt auf lateinisch Papa! Du schiebst wohl eine Vater-Übertragung auf mich!!« In dieser abstoßenden, aber äußerst repräsentativen Anekdote hat man die IPsaV und die Psychostruktur ihrer Repräsentanten in nuce; weitere Belege dieser Art ließen sich bergeweise erbringen. Hier ging es nur um einen relativ unbedeutenden Seminarschein; aber die Aussicht, jemandem in dieser Art – IPsaV-Mitglied war der gute Mann zwar nicht, jedoch repräsentierte er ihren Geist authentisch – über eine mehrjährige »Analyse« ausgeliefert zu sein, erfüllt einen doch mit Schaudern. Hierzu wäre noch etliches Weitere anzumerken, aber das ist nicht Thema dieses Buches. Um Literatur und Psychoanalyse ging es in diesen Veranstaltungen eigentlich kaum. Kenntnisse in der Literaturgeschichte, den Gattungen und Erzählweisen waren nicht erforderlich, eher störend. Von jenem Professor selbst stammte das strahlend verkündete Diktum, es sei generell nicht erforderlich, viel zu veröffentlichen (was man ihm auch wirklich beim besten Willen nicht nachsagen konnte), und entsprechend waren die Anforderungen an die Studenten und der Informationsgehalt der Seminare (dies auch das Geheimnis des doch recht zahlreichen Besuchs, denn es waren sogenannte »leichte Scheine«). Kenntnisse der Psychoanalyse waren pro forma zwar verlangt, wurden aber praktisch nicht eingefordert und waren ebenfalls eher störend. Anstelle des Wissenserwerbs wurde vielmehr die Diskussion verschiedener »Schulen« – das heißt der Verfälschung von Freuds Wissenschaft durch Jung, Adler, Klein und andere – gesetzt; dieses Verfahren, das man gern als »Pluralismus« und »Kritikfähigkeit« ausgab, ähnelte so recht dem Stochern von Blinden im Nebel und steigerte die allgemeine Konfusion. Freuds Biograph Ernest Jones, dessen Arbeit durchaus auch viele zweifelhafte Stellen hat, bemerkt hierzu völlig treffend:

»Jedenfalls wurden diese Abweichungen [sc. von Adler und Jung] prompt als verschiedene psychoanalytische Schulen bezeichnet, und ihre Existenz wurde von allen Gegnern – Laien und Fachleuten – reichlich ausgenutzt, um zu begründen, daß man die Psychoanalyse nicht ernst nehmen könne. Wie sollte man sie ernst nehmen, hieß es immer wieder, und wie sollte man den psychoanalytischen Befunden irgendwelches Vertrauen schenken, wenn ja ihre angeblichen Wortführer unter sich so uneinig seien, daß sie es für nötig hielten, verschiedene Schulen zu gründen? Für die Skeptiker und die Gegner war das Wesentliche an den ›neuen Theorien‹, daß Freuds Lehren verworfen wurden ...« (Bd. II, p.158 seq.).

Willkür und Beliebigkeit, Subjektivität und Spekulation waren so zwangsläufig die Folge der entsprechenden »Interpretationen«, und darin bestand ja auch das unausgesprochene Ziel dieser Veranstaltungen. Hätte es in diesen Seminaren nicht Angehörige einer politischen Gruppierung gegeben – der Marxistisch-Reichistischen Initiative –, die die authentische Psychoanalyse verteidigten und auch öffentliche Veranstaltungen zum Thema abhielten (es war die Zeit vor den seit ca. 10 Jahren durchgängig gehandhabten Raumverboten, und so waren auch die Chancen größer, auf die oben erwähnte Schrift »Der Ödipuskomplex und seine politischen Folgen« zu stoßen) – diese Seminare, abschreckend genug, hätten den Immunisierungseffekt des Pfaffen an der Schule potenziert und dem Gutwilligsten den Rest gegeben. Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, daß in Freiburg alljährliche Symposien zum Thema Literatur und Psychoanalyse stattfinden, in denen auch besagter Professor auf seine Weise zu glänzen weiß. Der Leser möge, so er will, sich durch Augenschein davon überzeugen, ob meine Schilderungen zutreffen oder nicht. Ich habe diesen Flohmarkt der Beliebigkeiten, des akademischen Dünkels und der Gehässigkeiten gegen die Psychoanalyse einige Male besucht; vor wenigen Jahren las ich in der Zeitung, besagter Professor habe bei einer solchen Gelegenheit die Ansicht vertreten, die Nazi-Konzentrationslager seien einer masochistischen Veranlagung der Juden in gewisser Weise entgegengekommen. Ein Psychologe wie unser Land. –
Über die traditionell konservativere Mediävistik ist weniger zu sagen; hier wallten eine Zeitlang die Jungschen Archetypen, den Umstand nutzend, daß das Ritterethos recht stereotyp ist und über die Biographie der Dichter und Epiker sowie über Einzelheiten der literarischen Produktion extrem wenig bekannt ist. Zwar gibt es, vor allem im »Parzival« Wolframs von Eschenbach, durchaus zentrale Passagen, die eine psychoanalytische Textinterpretation lohnten; die Vertreter dieses Fachs reagieren darauf aber eher mit Erschrecken und Unverständnis und halten sich an die christliche Heilsbotschaft. Immerhin hörte ich einmal eine Vorlesung, die ausschließlich dem Nachweis dienen sollte, daß der doppelte Inzest in Hartmanns »Gregorius« zwischen Bruder und Schwester sowie Sohn und Mutter »absolut nichts« mit dem Ödipuskomplex zu tun habe. Der geistige Horizont jener Literaturwissenschaftler bewegt sich eher im Rahmen jener Zeit, mit der sie sich befassen.
Sigmund Freud hat die geisteswissenschaftlichen Gebiete – Religion, Geschichte und Literatur – einmal als die »Kolonien« der psychoanalytischen Forschung bezeichnet. Ihr Stammgebiet ist die Analyse neurotisch erkrankter Personen; hieraus hat sie alle wesentlichen Erkenntnisse gezogen. Also gilt es, erst recht für den Literaturwissenschaftler, aber auch für den Leser, der Näheres darüber wissen will, sich diese Kenntnisse anzueignen. Die einleitenden Bemerkungen sollten dazu dienen, sich auf dieser Suche nicht abschrecken zu lassen und Umwege wie Fallstricke zu vermeiden; zugleich sollte aber auch eine Vorstellung vermittelt werden, aus welchen Quellen der Haß auf Freuds verfemte Wissenschaft stammt und wie er sich betätigt. Darüber sollte aber die Freude an der Erkenntnis nicht zu kurz kommen. Jene »Kolonien«, insbesondere die Literatur, liefern eindrucksvolle Bestätigungen für die Richtigkeit aller von der authentischen Psychoanalyse getätigten Aussagen – der Existenz des Unbewußten, der infantilen Sexualität, des Ödipuskomplexes, um nur die allerwichtigsten Erkenntnisse zu nennen – und gewähren eine Vorstellung davon, wie vielfältig die Anwendungsmöglichkeiten der Psychoanalyse sind. Zu den Fragen der Methode verweise ich auf das Vorwort und das – zu einer besseren Zeit für ein aufgeschlosseneres Publikum verfaßte – Nach-Vorwort in Fritz Erik Hoevels' Buch »Psychoanalyse und Literaturwissenschaft – Grundlagen und Beispiele«; eine prägnantere Übersicht und Problemstellung ist in keinem der vielen sonstigen neueren Bücher zum Thema zu finden. –
Der letzte Aufsatz dieses Buches befaßt sich mit einem Werk, dem literarische Qualitäten abgehen, aber es ist als einer der ersten Krankenberichte in der deutschen Literaturgeschichte von Interesse. Im ersten Drittel des 18. Jahrhunderts geschrieben, tritt die Person des Erzählers nur holzschnittartig hervor; trotz seiner Mitteilungsfreude bleibt vieles mit Rücksicht auf seine Zeit ungesagt, wird auch vieles unterschlagen, was der Berichter als unwichtig erachtete. Bei Rilke, einem der wichtigsten Lyriker dieses Jahrhunderts, und dem zwar unbekannteren, doch einen Rang als »Kultautor« genießenden Erzähler unheimlicher Geschichten, Lovecraft, bewegen wir uns auf sichererem Grund. Ihre Werke sind zu einem großen Teil Phantasieprodukte; die Schriftsteller treten als Person in klarer Kontur hervor. Der Reichtum ihrer autobiographischen Mitteilung erlaubt es, ihr Werk und ihren Werdegang in ein Kausalverhältnis zueinander zu bringen. Träume und flüchtige Phantasien, von denen die Schriftsteller beiläufig berichten, sind oft identisch mit der literarischen Phantasie, gewinnen ihren Stellenwert durch ihre Bedeutung in der Biographie des Dichters. In allen Fällen führen die literarischen Phantasien zu einschneidenden Erlebnissen in früher Kindheit zurück, die den Textproduzenten bewußt nicht zugänglich sind, von deren Existenz sie nicht einmal etwas ahnen. An ihrem Gesamtwerk wie an ihrer Person ist abzulesen, von welcher grundlegenden Bedeutung diese frühkindlichen Erlebnisse waren. Die rund 200 Jahre, die den Leipziger Geistlichen von dem Lyriker und dem amerikanischen Phantasten trennen, zeigen an, wie sehr sich die Selbstwahrnehmung verfeinert und die Ausdrucksfähigkeit gesteigert hat; der Standesangehörige wird zum Individuum. Die drei Texte zeigen aber zur gleichen Zeit, welch entscheidende – und erschreckend konstante – Rolle der Religion bei der Zerstörung der Persönlichkeit zukommt. Dieser Aspekt ist um so bedeutender, als sie sich nun wieder erlauben kann, gegen mißliebige Literaten Mordaufrufe zu erlassen und sie für vogelfrei zu erklären. Kulturelle Hochleistungen und ihre wissenschaftliche Würdigung vollziehen sich nicht in einem wertfreien Raum; sie sind heute sogar noch bedrohter als zu Zeiten des unglücklichen Adam Bernd.


Fußnoten:

1) Freud hat die hier skizzierten Zusammenhänge am prägnantesten in seinem 1908 erschienenen Aufsatz »Die ›kulturelle‹ Sexualmoral und die moderne Nervosität« zusammengefaßt. In der – wegen der unerträglichen Herausgeberkommentare absolut nicht zu empfehlenden – »Studienausgabe« von Freuds Werken nörgelt der Mitherausgeber Mitscherlich neunmalklug: »Diese Arbeit enthält keine Analyse der tieferen, innerseelischen Quellen der Kultur; die von der Zivilisation auferlegten Restriktionen werden eher als etwas von außen Aufgezwungenes dargestellt, und die Triebe, deren Konflikt mit der Kultur hier betrachtet wird, sind allein die Sexualtriebe.« Wer hätte das gedacht. Wie professoral-pedantisch das doch ist, wie betulich und – wie feige. Mohr Mitscherlich hat seine Schuldigkeit getan. Heute werden andere Töne angeschlagen.

2) Erst kürzlich wurde – die wievielte? – »endgültige Widerlegung« der Lehren Freuds in den Medien unter der Überschrift »Bye-bye Ödipus!« ausgeschrien. Zwei Psychologen hatten sich die Mühe gemacht, 130 Schulkinder nach ihrer Einstellung zu den Eltern zu fragen, und dabei »herausgefunden«, daß »ödipale Konstellationen« die »absolute Ausnahme« bildeten. (C.G. Jung hat seinerzeit fast identische »Untersuchungen« publiziert, als er von der Psychoanalyse abfiel.) Die Verfasser hätten es einfacher haben können. Sie hätten einfach bei einer Straßenumfrage beliebig viele Männer in einem beliebigen Land fragen müssen: »Wollten Sie jemals mit Ihrer Mutter schlafen und Ihren Vater umbringen?« (für Frauen die entsprechende ödipale Konstellation). Die Resultate wären sicherlich überwältigend und Freud zu 100% »widerlegt« gewesen. Es sei hier dem Leser überlassen, den »Fehler« – oder besser: die böswillige Irreführung – herauszufinden, die dieser »empirischen Untersuchung« zugrunde liegt. Sie belegt immerhin eines mit Sicherheit: daß diese Psychologen durchtriebene Scharlatane und die Medien ihre Lautsprecher sind.

Dr. Peter Priskil ist Historiker und Literatur­wissenschaftler in Freiburg. Langjährige Tätigkeit als Lektor und Übersetzer in einem wissenschaftlichen Verlag mit den Schwerpunkten Mediävistik und paläolithische Kunst. Seit den Aggressionen der USA ab 1992 mehrere Aufenthalte im Irak und im ehemaligen Jugoslawien. Einen weiteren Schwerpunkt seines Schaffens bildet die Anwendung der unverfälschten Psychoanalyse auf verschiedene Gebiete der sogenannten Geisteswissenschaften. Gemeinsam mit Fritz Erik Hoevels ist er Herausgeber von "System ubw. Zeitschrift für klassische Psychoanalyse".



Peter Priskil:
Freuds Schlüssel zur Dichtung
Drei Beispiele: Rilke, Lovecraft, Bernd
283 S., 1 Abb.
EUR 13,-
ISBN: 978-3-89484-807-1
(ISBN-10: 3-89484-807-3)
Erschienen 1996

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