Psychoanalyse und Literaturwissenschaft
Grundlagen und Beispiele
Die Wortkunst und ihre Beziehung zum Unbewußten dargestellt anhand der Werke von Apuleius, Arrabal, Beckett, Orwell und Panizza. Die erste grundlegende Einführung in die Anwendung der authentischen Psychoanalyse auf die Literatur nach dem Tode Freuds und der darauffolgenden nahezu beispiellosen Zersetzung seiner Lehre.
Inhalt
- Vorwort – Psychoanalyse und Literaturwissenschaft
- Zur Psychoanalyse des Psychemärchens und des Apuleius (1979)
- Die Spaltung der sinnlichen und zärtlichen Strömung in Arrabals »La bicyclette du condamné« (1974)
- Becketts Traurigkeit (1985)
- »1984« – Orwells Roman im Lichte der Psychoanalyse (1984)
- Anhang A: Nachschrift
- Anhang B: Orwell und das sogenannte Proletariat
- Eine Fetischistennovelle von O. Panizza (1973)
- Das Tabu des bestimmten Artikels (1985)
- Nach-Vorwort
Vorwort – Psychoanalyse und Literaturwissenschaft
Jedes Kunstwerk ist historisch; denn es ist zu einem bestimmten Zeitpunkt und unter bestimmten, unwiederholbaren Umständen entstanden. Deshalb ist die Kenntnis dieser Umstände zum vollen Verständnis dieses Kunstwerks unerläßlich, sind die entsprechenden historischen Disziplinen notwendige Hilfsdisziplinen jeder Kunst- und daher auch der Literaturwissenschaft. Jedes Kunstwerk ist aber zugleich gesellschaftlich; denn schon allein die Kategorie der Kunst – die bestimmte menschliche Produkte von anderen aussondert und sie diesen als abgrenzbare Einheit gegenüberstellt, wie blitzartig jede juristische Streiterei über »Kunstwerk oder nicht« mit all ihren handfesten Konsequenzen beleuchten mag – ist eine gesellschaftliche Kategorie, d.h., die eine jeweilige (entwickelte) Gesellschaft bildenden Individuen »haben sich darauf geeinigt« bzw. sind dazu erzogen worden, diese bestimmten menschlichen Produkte durch standardisierte Merkmale von anderen zu unterscheiden und auch anders zu behandeln, wie nicht nur das justitielle Beispiel zeigt. (Von diesen konventionellen Kriterien ausgehend kann eine Gesellschaft auch Produkte anderer Epochen bzw. Gesellschaften als »Kunst« kategorisieren und entsprechend behandeln, z.B. pfleglich konservieren, die von jenen Gesellschaften nicht so kategorisiert worden sind, sei es, weil sie die Merkmale anders standardisiert hatten, sei es, weil ihnen die Kategorie der Kunst überhaupt fehlte.) Genau das meint Frank Zappa in seiner (lesenswerten) Autobiographie mit dem Satz: »Das Wichtigste am Kunstwerk ist der Rahmen – damit nicht jemand sagen kann: 'Wer hat denn diesen Scheiß da an die Wand geschmiert!?'« Die vorzugsweise vorbewußt aufgenommenen, ihrem Wesen nach willkürlichen, d.h. von den kategorisierten Gegenständen unabhängigen oder fast unabhängigen, konventionalisierten bzw. standardisierten Merkmale, die die Kategorisierung und entsprechende Behandlung eines menschlichen Produkts als »Kunstwerk« herbeiführen, funktionieren analog zu den »Schlüsselreizen« aller mit Sinnesorganen ausgestatteten Lebewesen; sie sind aber im Gegensatz zu diesen nicht Bestandteil eines angeborenen Programms, sondern eines anerzogenen, historischen also und daher variablen (das in praxi mit Kontingenzen arbeitet). Diese Variabilität kann, wie der Vergleich mit einer strukturell verwandten historisch-gesellschaftlichen Kategorie demonstriert, nämlich der »Heiligkeit«, absolut und hundertprozentig gegenstandsunabhängig, also willkürlich, sein; »heiliges« (= »geweihtes«, von ahd. wîh = »heilig«) Wasser unterscheidet sich in keinem Atom von profanem, so wenig wie ein (von Marcel Duchamp) signierter Flaschentrockner oder Pißpott von einem unsignierten. In beiden Fällen aber mußte erst eine entsprechende Gesellschaft die dazugehörigen Etiketten und Vorstellungskomplexe vom »Priester« und »Künstler« hervorbringen, damit die jeweils etikettierenden Handlungen der entsprechend etikettierten Personen die entsprechenden Folgen für die jeweiligen Gegenstände, d.h. ihre Behandlung, haben können; fehlt diese Voraussetzung, so gelten die gleichen Handlungen bzw. die gleichen Personen als »verrückt« oder werden nicht beachtet. Die Kenntnis der gesellschaftlichen Mechanik ist also für das volle Verständnis der jeweils als Kunstwerke kategorisierten Untersuchungsobjekte ebenfalls unerläßlich, da schon der gesellschaftliche Charakter dieser Kategorie evident ist.
Er ist zugleich eine sozusagen klassische Ideologiequelle, genauso wie bei »Heiligkeit«, »Moral/Ethik« oder, wie Marx – jetzt lassen Sie doch Ihren neuerlich andressierten Spuck-, Gönn- und Zeterreflex, nehmen Sie doch erst einmal seine Gedankengänge lesend zur Kenntnis! – exemplarisch und nicht ganz aufwandsarm für den »Wert« (aller potentiell oder aktuell verkäuflichen Gegenstände) gezeigt hat (Das Kapital I, 1.Kap.4; vgl. auch ebd. 1.Kap.3.A.3.). Diese Quelle fließt nämlich immer dann, wenn der jeweilige kategorische Charakter in den kategorisierten bzw. etikettierten Gegenständen gesucht wird – so wie es zu Recht beispielsweise mit Lebewesen gemacht wird, die einer bestimmten durch gemeinsame Abstammung definierten Kategorie zugeordnet werden müssen, etwa die Ichthyosaurier den Reptilien und nicht den Fischen oder Säugern, die Blindwühlen den Amphibien bzw. Wirbeltieren, nicht jedoch den Ringelwürmern – statt in dem Kategorisierungsprozeß selber. Genau dies wollte Duchamp durch seine demonstrativ willkürliche Kategorisierung bzw. Signatur auch deutlich machen, weshalb der Charakter seiner diesbezüglichen Aktionen – die »Reaktion der Reaktion« (also der entsprechenden Teile der historischen Öffentlichkeit) bewies es so untrüglich wie ein chemisches Reagens – ideologiekritisch war, die Vorstellung jedoch, durch Signatur (oder eben: »Signierbarkeit«, darin stäke nämlich der ganze Irrtum) bzw. Weihung ändere sich das Wesen des signierten bzw. geweihten Gegenstands, ideologisch wäre.
Der prinzipielle Gegensatz zur Ideologie ist die Wissenschaft – Wissenschaft natürlich nicht definiert durch den Beamtenstatus ihrer möglichen Betreiber bzw. irgendwelche etikettierenden Willkürakte einer Kultusbürokratie, denn genau das eben wäre ideologisch – auch nicht durch ihren Gegenstand, etwa »[irgendwie systematisierte] Beschäftigung mit Tieren« versus »[~] Beschäftigung mit Sprache oder anderen Kulturgütern« –, sondern ausschließlich durch ihre – vom Ziel bestimmte – Methode. Das Ziel besteht darin, die Eigenschaften und Funktionen eines beliebigen (»frei gewählten«) Gegenstandes möglichst umfassend und verläßlich herauszufinden, und zwar so, wie sie in ihm selbst enthalten sind, also unabhängig von jedem Beobachter. (Herrschende Klassen verschiedener Zeiten, besonders der unsrigen, haben ganze Bataillone spezialisierter Quassler oder Schreier in Sold, die diese Zielsetzung als »unmöglich« o.ä. verbellen sollen, aber bemerken wir doch besser schnell die leicht erkennbare Absicht, verstopfen ihnen das machtgestützte, schul-, medien- und kathederresonanzbödige Tönmaul, lassen uns also nicht verwirren und setzen klaren Kopfes unseren Gedanken fort.) Die Methode der Wissenschaft ergibt sich also aus diesem Ziel, d.h. die fortschreitende Ausschaltung der Zufälligkeiten der Beobachtung (z.B. Täuschungen), bis schließlich alle Ergebnisse reproduzierbar, d.h. eben beobachterunabhängig geworden sind bzw. die Auswertung der unter allmählicher Ausschaltung aller Störungen gewonnenen Daten bei Beachtung der logischen Gesetze immer nur dasselbe bzw. dieselben Ergebnisse erzielen kann. (Die Kernprinzipien jeder Wissenschaft sind also Probe und Gegenprobe, kontrollierte Pro- oder Anagnose sowie erstens Primat der Datengewinnung vor der Datenauswertung, zweitens Ausschließlichkeit der gewonnenen Daten bei deren Auswertung, drittens Beachtung der Logik, sobald die Auswertung begonnen hat – werden diese Prinzipien ohne Beimengung eingehalten, so ist ihre Anwendung grundsätzlich auf jeden Gegenstand möglich, also auch auf »Literatur« oder »subjektive Vorgänge«, und ihre Ergebnisse werden so weit erhältlich und, je nachdem wie weit die nötigen Daten zugänglich sind, zuverlässig, so weit die Datengewinnung sich eben durchführen läßt. Für gewisse Gegenstände, etwa die Färbung ausgestorbener Tiere oder die Gedanken verstorbener oder abwesender Menschen, sind die entsprechenden Grenzen daher sehr eng.) Folgerichtig schließen Wissenschaft und Wertung einander aus; daher kann eine Literaturwissenschaft notwendigerweise nicht den Namen verdienen, wenn sie Aussagen darüber macht, wie »gut« oder »schlecht« irgendein Werk sei – denn als Wissenschaft ist sie ja auf objektive Aussagen beschränkt –; ganz genauso läßt sich auch niemals wissenschaftlich ermitteln, ob ein Gegenstand oder ein Mensch »schön« sei, da Schönheit ja keine Eigenschaft wie Masse, Maße oder Lichtabsorption (= »Farbe«) ist, sondern vielmehr eine Wirkung auf bestimmte Betrachter, die allerdings erforschbaren Gesetzen folgt. So kann die Wissenschaft allerdings erforschen, wie und warum bestimmte Objekte (von festliegenden Beobachtergruppen) als »schön« oder »häßlich« empfunden werden, genauso, wie die Literaturwissenschaft legitimerweise (und auch erfolgreich) die Mechanismen aufspüren und enträtseln kann, warum gewisse Schriftwerke von bestimmten Publica als »gut«, »hervorragend«, »mittelmäßig« oder »wertlos« beurteilt wurden oder werden; sie vermeidet mit diesem objektivierenden Ansatz jene Willkür oder Schlimmeres, die sie wohl des öfteren zwar zum Herrschaftsinstrument brauchbar und ihre Funktionäre besoldbar, aber des Titels »Wissenschaft« gänzlich unwürdig machen würde, verbreitet also Ideologie und wird dadurch selber zur Ideologie. –
Nun wird es Zeit, einem lange zurückgehaltenen Einwand Raum zu geben. Daß eine einmal entstandene Zuschreibungskonvention, nach welcher einem Gegenstand wahlweise Sakral- oder Kunstcharakter (oder eben nicht) zukommt, recht bald den von Duchamp (beispielsweise) demonstrierten Charakter uneingeschränkter Beliebigkeit erhält, wird jeder Einsichtige zugeben – könnte man im Bedarfsfalle etwa von einer Kloschüssel, einem also gewiß normalerweise als profan eingeschätzten Gegenstand, dem geeigneten Publikum erfolgreich weismachen, das Jesuskind habe einmal hineingekackt (seine Windeln wurden ja derzeit schon in vollem Ernst angebetet) und Nachahmung schütze z.B. gegen Hämorrhoiden, so wäre sie zweifellos ebenso »heilig« wie mit der Signatur eines anerkannten »Künstlers«, etwa Beuys', ein »Kunstwerk«. Aber etwas sträubt sich dagegen, die jeweilige gesellschaftliche Qualität, Heiligkeit oder Kunstwerk eben, für ausschließlich signifizierungsentstanden zu halten; genauso, wie der Tauschwert eines Gegenstandes je nach dem Zustand der Gesellschaft äußerst variabel ausfällt – eine Taschenuhr ist heute keinen Ochsen mehr wert –, also rein gesellschaftlichen Charakter hat und von den spezifischen natürlichen Eigenschaften des jeweils verkäuflichen Gegenstandes absolut unabhängig ist, aber dennoch irgendwelche natürlichen Eigenschaften ihm irgendeinen Gebrauchswert verleihen müssen, wenn er überhaupt Tauschwert haben soll: genauso scheinen sich gewisse Gegenstände, im Falle der »Heiligkeit« auch Lokalitäten u.ä., zur Signifizierung als »Kunst« oder »heilig« von sich aus mehr oder weniger zu eignen (und wenn sprachlich, somit als »Literatur«). Was dies bei der »Heiligkeit« ausmacht, was also an ihr – als einer noch viel dezidierter gesellschaftlichen und ideologischen Kategorie als der »Kunst« – sozusagen trotz allem »dran« ist und nicht direkt gesellschaftlich, habe ich exemplarisch in meiner Untersuchung über »Eine chinesische Harnreizphantasie« 1) vorgeführt. Bei der »Kunst« ist es einfacher. Wie die Etymologie schon klarmacht, kann es sich bei den zu ihr gerechneten Objekten nur um Menschengemachtes handeln (also nicht etwa um lebende Tiere, Lokalitäten, Felsformationen u.ä.), und zwar um etwas mit erheblichem Aufwand Gemachtes. Wo dieser Aufwand, was die rein handwerkliche Seite angeht, nur gering ist, wie etwa bei den »blauen« Bildern Yves Kleins o.ä., oder im Extremfall sich im Signieren sogenannter Ready-mades erschöpft, da wird in jedem Fall ein erheblicher geistiger (»konzeptueller«) Aufwand hinter dem vorgeführten Objekt vermutet oder wenigstens fingiert. Dazu kommt die (meist richtige) Vorstellung, daß ein nicht ungewöhnlich fähiger (und oft dazu noch in besonderer Weise ausgebildeter 2)) Mensch – wie vor allem im Normalfall der Betrachter selbst – die betreffenden Objekte nicht hätte herstellen können.
Doch damit ist auch der allgemeinste Kunstbegriff noch nicht hinreichend definiert; er ist noch nicht von den Erzeugnissen des Handwerks, aber auch der Wissenschaft und sogar Verwaltung abgegrenzt. Es kommt dazu, daß das solcherart schon definierte Objekt dazu geschaffen sein muß – und zwar erfolgreich –, subjektive Wirkungen zu erzielen. Es soll bestimmte Empfindungen oder Gedanken anregen, die zwar nicht immer und niemals ohne Mühe und nachträglich beschrieben und festgehalten werden können, aber doch mit einer gewissen Nachhaltigkeit und Regelmäßigkeit eintreffen müssen, um dem betreffenden Objekt den Titel des »Kunstwerks« einzutragen. Da die gleichen subjektiven Wirkungen von verschiedenen Gesellschaften und auch von verschiedenen Teilen der gleichen Gesellschaft sehr unterschiedlich geschätzt werden, fällt auch die je historische Bewertung der jeweiligen Werke sehr unterschiedlich aus; dazu kommen noch allerhand Sekundärfaktoren von purem, äußerlichem Signifikanzcharakter – ein »Nationaldichter« etwa wird, zumindest in seinem eigenen Land, aber davon ausstrahlend je nach dessen Bedeutung auch in anderen Ländern, stets höher eingeschätzt als ein beliebiger Dichter anderer Jahrhunderte, in denen der Nationalstaat noch nicht in Sicht war oder schon bestand, in Wahrheit unabhängig von der Spezifität seiner Dichtungen –, aber auch die Besonderheiten der jeweils anerzogenen Wertungstradition, die oft Umfunktionierungen bestehender geschätzter Kunstwerke bequemer findet als deren Entwertung und die Produktion und Etablierung neuer, und vieles andere mehr, das aber nicht mehr zu unserem Thema gehört. Festzuhalten aber bleibt, daß die Erzielung subjektiver Wirkungen mit jedenfalls bei Eintritt derselben unerkennbaren Mitteln das entscheidende Substrat ausmacht, auf dem die Kategorie »Kunst« (oder »Literatur«, hier synonym für »Sprachkunst«) entstehen konnte.
Darüber hinaus muß eine subjektive Wirkung mit unerkennbaren (oder erst durch viel spätere Analysen erkennbaren) Mitteln auch intendiert gewesen sein, gleichgültig, wie weit oder wie genau sie auch eintrifft. Amtliche Schriftstücke können beispielsweise eine erhebliche subjektive Wirkung zumindest auf dafür disponierte Personen ausüben, vor allem Schrecken, aber diese Wirkung wird nicht mit vorab in ihrer Mechanik undurchschaubaren subjektiven Mitteln erzielt, sondern mit objektiven, bei denen Wahrnehmung und Erkenntnis ihrer Mechanik ohne weiteres zusammenfallen, nämlich Drohungen, hinter denen ein dem Leser wohlbekannter und übermächtiger Gewaltapparat steht. Anders bei der Kunst und daher auch ihrer sprachlichen Abteilung. Die subjektiven Wirkungen werden mit als solche kaum oder gar nicht wahrnehmbaren Mitteln hervorgerufen, deren Erforschung eine ganze Wissenschaft, wenn nicht sogar mehrere Wissenschaften erfordert.
Und genau an dieser Stelle ist der Platz der so unbeliebten, so unbekannten Wissenschaft Freuds, der Psychoanalyse eben, jener Wissenschaft, die als einzige die subjektiven Vorgänge ausreichend erklären kann (jedenfalls, wenn ihr, wie jeder anderen Wissenschaft auch, das benötigte Material ausreichend vorliegt). Es ist hier leider nicht der Platz, ihre Methode und ihre Hauptergebnisse ins Gedächtnis zu rufen; es sei nur hervorgehoben, daß sie es – unter günstigen Voraussetzungen – zu leisten vermag, die konkrete, »verschüttete« Lerngeschichte desselben zu rekonstruieren, während die typisch akademische »Lernpsychologie« die je vorhandene unsichtbare »Lerngeschichte« des Individuums nur abstrakt und spekulativ behaupten kann. Da nun Kunst ganz allgemein durch ihre subjektiven Wirkungen definiert ist, hinter denen – als Schöpfer – wiederum ein Subjekt steht, so leuchtet es ein, daß die wirksamste Wissenschaft des Subjektiven zur Erklärung ihrer jeweiligen Entstehung und Wirkung entscheidend beitragen kann.
Es ist witzig, wie sich dieser Zusammenhang gerade an den Äußerungen eines ihrer fanatischsten lebenden Feinde, des Niederländers Karel van het Reve, e negativo vorführen läßt. In seinem Sammelband »Dr. Freud und Sherlock Holmes« 3) schießt dieser blindwütige Jünger Poppers nicht ohne Intelligenz und Kenntnisse eine Salve Pfeile über Pfeile unter beißendem Hohn auf die zentralen, für die Grundlegung der Psychoanalyse ausschlaggebenden Stellen im Werke Freuds ab, indem er durch Erfindung immer neuer und immer weiter hergeholter Alternativerklärungen der entscheidenden Ableitungen von Freuds Schlußfolgerungen diese zu entwerten sucht, wobei er sie in Analogie zu den ebenfalls auf diesem Wege als scheinlogisch attackierten des ja nur fiktiven Sherlock Holmes bringt und dadurch lächerlich macht, so lange, bis der Leser sich fragt, was nach diesem Ausmaß an Alternativenphantasie vor dem gestrengen Autor denn jemals noch als solide Ableitung von Schlußfolgerungen aus auffälligen Tatsachen Bestand haben und Anerkennung finden kann – zumal Attacken gleichen Stils auch noch, wer hätte das beim Popperjünger nicht erwartet, gegen den Marxismus und, weniger erwartet, gegen jede historische Biologie einfließen, welch letztere freilich durch ihr geradezu unvorstellbares Ausmaß an Ignoranz bei unverminderter Heftigkeit ein recht grelles Schlaglicht auf des Autors Fanatismus werfen (cf. op. cit., p.10 sq.). Unser Befremden wird nicht kleiner, wenn wir endlich seine ihm wirklich wohlgefälligen, so sehr im Gegensatz zu Psychoanalyse, Marxismus und Evolutionslehre seiner Ansicht nach volles Vertrauen verdienenden, von jeder Kritik plötzlich ausgenommenen Vorbilder echter Wissenschaftlichkeit kennenlernen, nämlich »Journalisten, Historiker, Polizeibeamte und Juristen« 4). – Aber diese Leute, die jeder, der einmal ernsthaft mit ihnen zu tun hatte, ein wenig distanzierter hinsichtlich der Problemlosigkeit ihrer Tatsachenbehauptungen und der Logik ihrer Ableitungen daraus beurteilen dürfte, und ihresgleichen können nun einmal zur Klärung literarischer Phänomene und Wirkungen äußerst wenig beitragen, und so kommt der überraschende Schlußaufsatz 5) des meines Erachtens exemplarischen Büchleins: jetzt wird auf einmal, noch immer in der Maske des hochintelligenten Zynikers (der bis jetzt nur einmal, nämlich in dem zitierten vorbilddekretierenden Satz, Sympathie ohne sogenannte Ambivalenz gezeigt hat), die universitäre, also normalerweise Psychoanalyse, Marxismus und Biologie ganz fremde bis feindliche Literaturwissenschaft attackiert, für absolut wertlos und Geldverschwendung erklärt, nicht etwa wegen ihrer tonnenweisen Wertungen und sonstigen »unfalsifizierbaren Sätze«, die doch, wie der gutwillig-naive Mensch erwarten müßte, den bekennenden Popperianer zu ihrer Geißelung reizen müßten – die lassen ihn gründlich kalt –, sondern weil sie ... die emotionalen Wirkungen der Lieblingsschriftsteller auf unseren Autor nicht zu erklären vermöchte, Wirkungen, die dem angeblichen Rationalisten so teuer sind, daß seine Zynikermaske auf einmal bricht und die in diesem Fall von jedem Kenner schon erwarteten Sentimentalitätsströme unter ihr hervorquellen, die so gar nicht zum Wunsch nach einer objektiven Erklärung des so hoch bewerteten Phänomens passen wollen, wo es doch, ganz ohne Schuld auch des reaktionärsten und schwafelfreudigsten Literaturprofessors, eine andere, die zugleich den dringlich-sentimentalen Schrei van het Reves nach einer solchen zu erfüllen vermöchte, einfach nicht geben kann. Denn der einzigen Wissenschaft, die diese Aufgabe längst gelöst hat, hat er ja mit eisernem Nachdruck jede Tür vor der Nase zugeschlagen und gleicht nun jemandem, der über Durst jammert und dabei dringend darauf besteht, man müsse ihm Wasser reichen, das allerdings, aufgrund seiner Neigungen und Überzeugung, unbedingt trocken zu sein habe. –
»Trockenes Wasser« im Sinne einer Erklärung aufregender Phänomene, die garantiert nicht den Unwillen von Justiz und Presse, Macht und Mehrheit hervorruft und dennoch zentral und zutreffend ist, kann freilich die Psychoanalyse, kann überhaupt keine echte Wissenschaft anbieten – die Logik gebietet, daß derlei nur unter der Voraussetzung möglich ist, daß Machtträgerschaft und Interesse an der uneingeschränkten Gewinnung und Verbreitung der Wahrheit zusammenfallen, am wenigsten aber entgegengesetzte Interessen der Machtträger existieren –, und so bleibt denn, wie noch bei jedem Positivismus (d.h. einem wie auch immer systematisierten historischen oder kausalen Denkverbot unter der Parole »Mehr Wissenschaftlichkeit wagen!«), jeder gesellschaftlich organisierte, ja eigentlich jeder subjektive Prozeß ein vor dem Zugriff der Wissenschaft geschütztes Mysterium; er bleibt in jenem gottwohlgefälligen Dunkel, in dem so gut munkeln (und schwafeln und suggerieren) ist. –
Welche Erklärung der sonst unerklärlichen Wirkungen der Kunst, speziell der Literatur, hat die Psychoanalyse nun zutage gefördert, ob nun polizeiwidrig oder nicht? – Ihre zentrale Leistung war nun einmal der Nachweis eines sehr und wohl mehr als Polizeiwidrigem in jedem Individuum, nämlich aller seiner Wunschregungen, die im Zustand extremer Schwäche und zugleich des allseitigen Wachstums auf die wirkliche oder vermutete Drohung der Macht stießen – hier mag unsere »Polizei« einmal ganz Metapher sein, gewöhnlich waren es konkret die Eltern, in aus gewissen Gründen geschlechtsabhängiger Asymmetrie, die ja nun zugleich im allgemeinen auch Medien und Büttel der jeweilig historisch-gesellschaftlichen Unterdrückung sind, was dem scheinbar so unhistorisch-individuellen »Ödipuskomplex« die spezifisch historisch-soziale Prägung verleiht, man vergleiche später etwa exemplarisch damit meinen Aufsatz über Arrabal –, Wünsche also und die jeweiligen individualhistorischen Szenerien, in denen sie wach wurden und welche hieran erinnern, die durch eben jenen Zusammenstoß mit den drohenden Machtträgern auf eine mindestens beim Menschen offenbar hirnphysiologisch vorprogrammierte Weise die Bewußtseinsqualität entzogen bekamen – etwa durch den cerebralen Schaltplan: »Wenn Bild A ... bis X an, dann Angst an, dann Licht aus« –, also unbewußt wurden, und der von Freud geprägte Fachausdruck für diesen Vorgang lautete: »Verdrängung«. Das klingt doch ein wenig anders als die Schul- und Banalfassung, gar Pfaffenfassung, seiner Lehre! In der praktischen Rückgängigmachung dieses Prozesses bestand (und besteht, sofern sie überhaupt noch besteht) die Psychotherapie Freuds, und in seiner Erforschung Freuds Wissenschaft. Diese Erforschung ist nicht gerade einfach, da der Prozeß sozusagen zwangsweise verwickelt ist.
Zwangsweise deshalb, weil nach erfolgter Verdrängung die unbewußt gewordenen Inhalte ja der Anstrengung unzugänglich geworden sind, wohl allerdings – und wie! – weiterhin wirksam. Aber sie – d.h. ihre »Abkömmlinge« – sind es gewöhnlich in so entstellter Form, daß sie erstens meist nicht als solche erkennbar sind, und zweitens entspringt die Mehrheit ihrer Abkömmlinge keineswegs aus ihnen direkt, sondern vielmehr aus den vielfältigen Mitteln ihrer Niederhaltung, d.h. der Verhinderung ihrer Bewußtwerdungsfähigkeit (= ihrer subjektiven Wahrnehmbarkeit), also eben der Stabilisierung ihrer Unbewußtheit. (Darum besteht auch ca. die Hälfte aller sich seriös gebenden bzw. intelligenteren Angriffe auf die Psychoanalyse, von A. MacIntyre bis Birbaumer und darüber hinaus, in der Wegargumentierung des unbewußten Zustands psychischer Inhalte, im »Nachweis« [cf. »Gottesbeweis«] seiner Unmöglichkeit.) Es galt also herauszufinden, welche Voraussetzungen am ehesten geeignet sind, diese innerpsychischen Mechanismen der Niederhaltung der Wahrnehmbarkeit verdrängter psychischer Inhalte – Mechanismen, deren Gesamtheit Freud zunächst als »Zensur«, später als »Über-Ich« bezeichnete – zu schwächen oder zu umgehen. Ex post betrachtet, benutzte Freud zu diesem Zweck ursprünglich die Hypnose; sie erwies sich jedoch als weder weittragend noch praktikabel genug, um nennenswerten Nutzen abzuwerfen, außerdem provozierte sie naheliegende wissenschaftslogische Einwände. Aber bald fand sich eine bessere Voraussetzung, sich dem unbewußten Material zu nähern: seine Nebensächlichkeit. Von der ganzen Wucht der Verdrängung, der wachsamsten Aggression des Über-Ichs betroffen war ja der ursprüngliche Wunsch, dem die wirkliche oder vermutete Aggression der realen übermächtigen Machtträger (deren Nachfolger als »psychisches Introjekt«, d.h. aggressiver Fremdkörper im seelischen Apparat, das sogenannte Über-Ich dann ja wurde) historisch gegolten hatte, ferner die unmittelbar damit verknüpften, weil unausweichlich an den Anlaß erinnernden Begleitumstände; war die Verdrängung einmal vollzogen, so war an diese nicht mehr heranzukommen, so blieben sie zuverlässig unbewußt. Aber mit diesen zentralen Begleitumständen waren weniger zentrale – in der Realität – verknüpft gewesen, in der neuronalen Speicherung dementsprechend auch, psychisch also »assoziiert«; je peripherer sie waren, um so zahlreicher waren sie nach den Gesetzen der Geometrie und um so weniger besetzt, um so größer also die Chance, daß sie – mit jenem »hirnphysiologischen Schaltkreis«, den ich oben hypothetisch skizzierte – der Zensur des Über-Ichs entgingen, daß von diesen weniger gut »bewachten« peripheren (also objektiv nebensächlichen) Resten die automatische Abschaltung zur nächsten, schon weniger peripheren Assoziation zu umgehen sein könnte, worauf aber dann, aufgrund deren stärkerer psychischer Besetzung, das nächste Abschalten bedeutend schwieriger würde – ähnlich wie bei der Herstellung sukzessiv größerer Öffentlichkeiten gegenüber einer staatlichen Informationssperre oder, auch das hat seine psychisch-individuelle Parallele, gleichgeschalteten und standardisierten Lügenversion –, so daß man sich, dieses eben sukzessive bewußt machend, von der Peripherie an das Unbewußte heranschleichen konnte ... und die Psychoanalyse im engeren Sinne, Therapie wie Wissenschaft zugleich, war geboren. Wir brauchen ihre Wege von diesem Ausgangspunkt aus hier nicht weiter zu verfolgen.
Doch es fragt sich, ob es neben einer gewissen Eigenschaft des verdrängten Materials – Nebensächlichkeit (eine Struktur, aus der tatsächlich jene von Freud selbst mehrfach bemerkten Parallelen zwischen Psychoanalyse und Kriminalistik entspringen, aus denen van het Reve seinen Zucker kaut) – auch noch andere Voraussetzungen geben könnte, unter denen eine Durchbrechung der Zensur durch das aggressive Introjekt erleichtert werden könnte. Es gibt sie tatsächlich, aber sie sind von sehr unterschiedlichem Wert. Den einen kennen wir alle (darum haßt ihn auch eine so gezielt menschenfeindliche Religion wie der Islam derart intensiv), nämlich der unmittelbare chemische Zugriff auf den Hirnstoffwechsel – die dazugehörige Erkenntnis hat sich in dem jahrtausendealten Sprichwort »in vino veritas« niedergeschlagen. Offenbar setzt irgendein chemischer Vorgang die Leistungsfähigkeit der Ichkräfte herab, entwaffnet aber damit zugleich sozusagen die von der Besatzungsmacht in ihren Dienst gepreßte Hilfspolizei aus dem Kolonialvolk selbst. Da dieses aber pauschal mitgeschwächt wird – die Schwächung seiner Hilfspolizei, Ichfunktionen in Über-Ich-Diensten, ist ja nur eine Nebenwirkung allgemeiner plötzlicher Ichschwächung –, bleiben die Ergebnisse im Normalfall kaum verwertbar, konturlos und überdies amalgamiert mit schädlichen Nebenwirkungen. – Es gibt jedoch noch eine andere, kompliziertere und aufwendigere Voraussetzung für unser gesuchtes Ergebnis, die wahrscheinlich sogar von den Klassikern der Psychoanalyse, obwohl von ihnen durchaus benannt, viel zu wenig beachtet und in das Lehrgebäude ihrer Wissenschaft eingegliedert worden ist.
Diese Voraussetzung ist dann gegeben, wenn ein hoher oder ziemlich hoher psychischer Aufwand, der zu Verdrängungszwecken chronisch benötigt wird, plötzlich zusammenbricht. Machen wir uns den Vorgang eines solchen Zusammenbruchs einmal an einem »reinen« oder unkomplizierten Beispiel klar, nämlich einem, in dem der psychische Aufwand nicht zur Verdrängung eingesetzt wird. Stellen wir uns etwa zwei Personen vor, die irgendwo aus Fertigteilen nach einer als verzwickt empfundenen Gebrauchsanweisung einen Schrank aufzubauen haben; sie probieren und probieren, aber es wird immer verzwickter; mühsam und angespannt probieren sie weiter; da findet plötzlich jemand einen ganz einfachen, bisher übersehenen Handgriff aus der Gebrauchsanweisung, und der Schrank fügt sich mühelos zusammen! – Wer kennt nicht ähnliche Szenen – und hat erlebt, daß sie in Lachen enden?!
Dieses Lachen ist der von der Natur für zumindest unsere Art vorgesehene Weg der Abfuhr von plötzlich unverwertbar gewordener psychischer Energie, in diesem Fall jener Anstrengung, die für die Aufrechterhaltung immer komplizierterer dreidimensionaler Vorstellungsbilder (und deren Vergleichung) benötigt wurde und die, plötzlich überflüssig geworden, ihren unspezifischen Abfuhrweg findet. Man kann auch sagen, eine hohe psychische Spannung, mühsam aufgebaut und erhalten, sei mit einem Schlag zusammengebrochen. (Unwesentliches hochspielende Gegenargumente seien kurz entkräftet: warum habe ich zwei Schrankaufbauer genommen? – Weil einer den »Kniff« vor dem anderen entdeckt, sein psychischer Aufwand also um wichtige Zehntelsekunden langsamer zusammenbricht als derjenige dessen, dem er ihn – durch gestische Demonstration, einen zeigenden Zuruf »Hier!« etwa o.ä. – erspart, weswegen gewöhnlich dieser zu lachen anfangen wird. Damit steckt er oft den »Entdecker« an; beide fühlen sich vom »Druck«, nämlich der vorstellungserhaltenden Aufmerksamkeitsleistung, »erleichtert«. Ferner ist dieser Druck höher, wenn »Zeugen« da sind, weil diese, in unserem Fall, erstens das Arbeitstempo mitbestimmen, zweitens den Wunsch wecken, vor ihnen nicht »dumm« zu erscheinen.)
Nehmen wir nun ein verwickelteres Beispiel, das uns wieder in den Bereich der Sprache zurückführt (und das noch nicht einmal konsequent, wie wir sehen werden), da diese ja dazu da ist, auf standardisiertem Wege Vorstellungsinhalte auszulösen (und ferner, sie zu konservieren, was aber hier nichts zu suchen hat). –
Es ist wohl unstrittig, daß Schadenfreude und Blutrünstigkeit wenig angesehene Quellen subjektiver Freude sind, die man sich auch ungern eingesteht und an der eigenen Person, eine gewisse Entwicklungshöhe vorausgesetzt, auch wohl kaum mehr wahrnimmt; wie weit vollständige Verdrängung oder nur eine Tendenz dazu vorliegt, braucht hier im Einzelfall nicht diskutiert zu werden. Wie ist es nun möglich, daß folgender im Erzählton vorgetragener Satz sehr wohl immer wieder den gleichen physiologischen Effekt auszulösen vermag wie die evozierte »plötzliche Erkenntnis« beim Schrankaufbau? – :
»Tünnes, schalt' jetzt nicht an, ich sitz' in der Zentrifuuuuu – ... « –
(wobei die letzte langgezogene Silbe einen rasch steigenden Tonfall benötigt).
Doch offenbar deshalb, weil durch das aus der Alltagserfahrung automatisch erkennbar gewordene Geräusch rasch ansteigender Rotation die Vorstellung des arg geschleuderten »Schäl« durch vorbereitete und dann unlösbar gemachte Assoziation schneller aufkommt – und nur Zehntelsekunden lang stehenbleibt – als seine moralische Beurteilung 6). Auf dem präparierten Kontingenzweg sind also die »Wachposten« des Über-Ichs handstreichartig überrumpelt worden, die verbotene, aber ursprünglich angestrebte Vorstellung vor ihrer Zensierbarkeit »angeschaltet« worden und dadurch die zur Unterdrückung möglicher verpönter Lust unterhaltene Anspannung, zur Verdrängung eingesetzte psychische Energie also, plötzlich frei geworden – und wird daher auf dem genannten muskulär-polysynaptischen Reflexweg abgeführt. (Dazu kommt, daß »Tünnes und Schäl« anerkannte »Witzfiguren«, also gewissermaßen zweidimensionale Figuren »nicht aus Fleisch und Blut« sind, was wiederum der Nicht-Einschaltung der »moralischen Instanz« dient, nämlich durch Ablenkung, eigentlich Irreführung; darauf weist auch die Unzahl analoger »Witze« hin, wo angebliche »Erbsen«, »gelbe Rüben« oder »Schnecken« unter vergleichbaren Dialogen »dran glauben müssen«.) Wichtig zur Würdigung dieses nur sehr scheinbar banalen Vorgangs, in dessen Analyse die Psychoanalyse aber den wichtigsten Schlüssel zur Erklärung der Kunst gefunden hat, ist zentral der Vorgang: plötzlicher Zusammenbruch psychischen Energieeinsatzes, der (chronisch) zur Aufrechterhaltung von Verdrängung gedient hat. Dies leistet eben die Komik – durch Situationen, etwa real oder simuliert, auf Bühne oder Leinwand – oder, auf höheren Stufen der Ichentwicklung, bei uns also etwa seit der Reformationszeit, der sogenannte Witz. Schon seine Etymologie verrät, daß er, im Gegensatz zum bloß materiell vorstellungsevozierenden Schwank, eine durchschnittlich höhere Ausbildung der Ichfunktionen in der Bevölkerung zur Existenzvoraussetzung hat, und historisch-ethnologische Beobachtungen belegen recht drastisch diesen geschichtlich-gesellschaftlichen Aspekt; einige habe ich vor allmählich zwei Jahrzehnten selber in Nepal machen können, aber ihre Demonstration würde hier zu weit führen. Jedenfalls besteht hier für die Psychoanalyse ein recht vernachlässigtes Forschungsgebiet.
Machen wir uns darum nur noch mit den zum Verständnis des Vorgangs unverzichtbaren Grundmechanismen der Witzwirkung vertraut, der bekanntlich wieder einmal erst Sigmund Freud ihr Geheimnis entreißen konnte; da sein diesbezügliches Buch aber selten genug mit der nötigen Disziplin gelesen wird – und andererseits auch das Verständnis unseres Gegenstandes, der Sprachkunst, von ihm abhängt –, wird eine Skizze und Würdigung des zentralen Ablaufs nützlich sein.
Unverzichtbar für die Witzwirkung, jedenfalls für jene erdrückende und vor allem: intensiver wirkende Witzmehrheit, in der zur Aufrechterhaltung einer Verdrängung benötigte Energie plötzlich frei wird – und auf dem immer gleichen physiologischen Wege abfließt –, sind nur zwei Mechanismen, die wir auch in der Sprache der Universitätspsychologie beschreiben können: erstens Setzung einer Kontingenz, die später benötigt wird (in unserem Fall: Sprecher => Innenraum, hergestellt durch die Wortfolge: »sitz' in«) – ein verdrängungsneutraler Mechanismus also –, zweitens plötzliche Mobilisierung dieser Vorstellung durch Ausnutzung einer anderen, evtl. schon bestehenden (wie in unserem Beispiel) ebenfalls neutralen Kontingenz (heftiger Tonanstieg => Rotationseinsatz), die dann in einem nicht verdrängungsneutralen Kontext erscheint und dadurch die »zensierende Instanz« »überrumpelt«, indem sie es schafft, die verpönte Vorstellung vor ihrer Verpönung erscheinen zu lassen. Läßt sich die zweite benötigte Kontingenz nicht aus der Alltagserfahrung beschaffen, so muß der Witzkompositeur diese Setzung selber leisten, was wir an sozusagen klapprigen Witzen, in denen dieses Hebelwerk gewissermaßen nackt hervortritt, besonders gut beobachten können:
Jemand [offenbar ein Mann also, F.E.H.] hört in einer Toilette neben ihm einen Insassen zählen: »Eins! Zwei! Drei! Vier! Fünf! Sechs! Sieben!« – Verwundert fragt er ihn beim Rauskommen, was denn dieses Zählen gesollt habe. – »Das ist ganz einfach«, erwidert der zweite, »Eins bedeutet: 'Reißverschluß aufmachen!', Zwei: 'Schwanz rausholen!', Drei: 'Vorhaut zurückziehen!', Vier: 'Pinkeln!', Fünf: 'Vorhaut wieder drüberziehen!', Sechs: 'Schwanz wegpacken!', Sieben: 'Reißverschluß zuziehen!'« – Nach einer Weile kommt jener wieder zurück in diese Toilette und hört mit Verwunderung die Stimme dessen, der ihn gefragt hatte, hinter der Klotür: »Drei, fünf! Drei, fünf! Drei, fünf! ...«
Selten finden wir die zweifache Kontingenzsetzung in geradezu tierversuchsartigem Schematismus und die benötigte Kontingenzenkombination so zusatzlos durchsichtig vorgeführt wie in diesem billigen, aber formal instruktiven Witz. Die »Verwendung gleichen Materials«, welcher Freud durch – geringfügige – »psychische Aufwandsersparnis« Zünderfunktion für die eigentliche »tendenziöse« Aufwandsersparnis, nämlich die plötzliche Freisetzung des chronischen Verdrängungsaufwands, zuschreibt, läßt sich hier besonders einfach demonstrieren; sie liegt aber ausnahmslos jedem echten Witz zugrunde. Meine Leser sind gebeten, sich der Übung ein paarmal an beliebigen Witzen zu unterziehen; sie werden die analysierte Mechanik überall wiederfinden. Es ist nun naheliegend, daß ein solcher ökonomischer Zusammenbruch der Verdrängung dieser bei häufigerer Wiederholung nicht guttun kann; Witz und Satire können die Verdrängung, jedenfalls wenn zwecks Erhaltung einer Ideologie, insbesondere der Religion, Ichleistungen gelähmt werden sollen, durchaus schädigen und dadurch dem strangulierten Ich wieder atmen helfen – wir erkennen nun sofort, warum sie, im Gegensatz zu einfachen Stimulationen der Ichleistungen durch Modell, also Argumente, noch sehr viel anfälliger gegen Zensur und sonstige staatliche Unterdrückung sind (wenn nämlich der Staat am Fortbestand der jeweiligen Ideologie oder Ideologien interessiert ist). Diese stete und rasche Zensurgefährdung hat er also nicht einfach seinen Inhalten bzw. den durch ihn der Wahrnehmung zugänglich gemachten Inhalten, sondern seiner spezifischen Mechanik zu verdanken.
Und damit sind wir wieder bei der Kunst, ganz besonders der Wortkunst, angelangt. Hatten wir gesehen, wie gewisse Voraussetzungen der Schwächung innerpsychischer Wahrnehmungsabwehr günstig sind und beim Witz durch Kontingenzen – im Sinne von Freuds »Aufwandsersparnis durch Verwendung gleichen Materials« – sowie durch deren Einsatz zur Umgehung der subjektiven Wahrnehmungszensur mittels Kontingenzautomatismus zum kurzfristigen Zusammenbruch der Verdrängung genutzt werden bzw. führen, so ist der Wirkmechanismus bei der gesamten Wortkunst ähnlich. Witz und Kunst sind zutiefst verwandt. Deshalb sind sie auch während ihrer gesamten Geschichte immer wieder gesellschaftliche bzw. staatliche Zensurobjekte, immer wieder zensurgefährdet, siegreich über die Zensur, zerstört durch die Zensur. Auch die sozusagen allerernsteste Kunst ist, aufgrund ihrer verborgenen Wirkungsweise, stets dem Witz affin.
Erinnern wir uns nun, daß wir in gewissen menschlichen Produkten etwas gesucht haben, was sie, ist die Kategorie »Kunst« erst einmal gesellschaftlich entstanden, zu dieser Kategorisierung besonders geeignet macht! Wir hatten gesagt: Objekte, die um subjektiver Wirkungen unerkennbarer Mechanik willen hergestellt worden sind. Wir können jetzt einsetzen, um welche Mechanik es sich handelt: um die Verwendung gleichen Materials zwecks psychischer Aufwandsersparnis. So erwirbt die Kunst, analog zum Witz, die virtuelle Fähigkeit, die Verdrängung zu lockern, am Ende aufzuheben. –
Dies bestätigt nun ein erster Blick in die ältesten Schichten der »Literatur« oder Wortkunst – die Anführungsstriche deshalb, weil in ihren Anfängen die litterae ja noch nicht existierten. Denn als Urbild der Sprachkunst gilt uns, gilt auch allen anfänglichen Kulturen immer die gebundene Rede, d.h. die Verwendung wiederkehrender Klangstrukturen – Rhythmen, Reime, Assonanzen und Alliterationen –, d.h. eben der psychischen Aufwandsersparnis durch Verwendung gleichen Materials. Man merkt diese Wirkung sofort an ihrer besonders engen Affinität zum Witz: gereimte Aussagen, z.B. Wilhelm Buschs oder Alfred de Parnys, wirken entschieden witziger, mit allen physiologischen Komponenten, als die haargenau gleichen in Prosaauflösung. Doch auch die »ernsten« Gedichte – Analoges gilt für andere Kulturen, z.B. die griechisch-römische oder die altindische Antike für rhythmische Strukturen, sogenannte »Versfüße« – arbeiten mit exakt demselben Mittel, welches das Geheimnis ihrer »Suggestivität« enthält. Doch auch für Prosaformen gilt dasselbe; nur sind hier größere Einheiten die wiederkehrenden »Materialien«, mit denen durch psychische Aufwandsersparnis die sog. ästhetischen Effekte, z.B. Unheimlichkeit, »Überzeugungskraft«, Identifikation mit fiktiven Figuren u.v.a. mehr, erzielt werden. Zur Erkenntnis der Mechanik dieser Effekte konnte wiederum nur die Psychoanalyse führen – Freud selber ermöglichte uns das Verständnis des »Unheimlichen« (GW XII 229-268), viel zu wenig beachtet, des »Pathetischen« 7). Aber leider hat der rasche Niedergang der Psychoanalyse nach dem Tode Freuds alle diese und viele andere unbefangene Forschungen verdorren lassen; es bleibt noch viel zu tun. –
Denn der Schwerpunkt der psychoanalytischen Forschung lag von Anfang an auf dem Nachweis der unbewußten Inhalte in den literarisch gestalteten Phantasien; das war nur naheliegend, da es ja diese sind, die primär geleugnet werden, und ohne den die Untersuchung der subjektiven Wirkmechanismen ohnehin unmöglich bzw. sinnlos wäre. Auf diesem Felde haben Freud und einige seiner unmittelbaren Schüler mehr als Großartiges geleistet; Freuds eigene diesbezügliche Werke sind zu bekannt, um zitiert werden zu müssen, aber einige seiner direkten Schüler sind ihnen an Musterhaftigkeit und Gründlichkeit sogar noch überlegen gewesen und viel zu wenig beachtet worden – ich nenne hier neben Bonapartes immerhin doch recht bekannter Poe-Untersuchung vor allem Hellmuth Kaisers schlechthin unübertreffliche Kafka-Studie 8) (auch wenn deren allerletzte Seiten durch ein paar störende und abwegige Spekulationen verdunkelt werden, die man aber mühelos wegdenken kann) und den kurzen, aber stets ins Schwarze treffenden Aufsatz von H. Sachs über Kubins Roman »Die andere Seite« 9). Leider kann man derart Lobendes über die meisten anderen, auch echten, Psychoanalytiker, die sich zu Freuds Lebzeiten oder erst recht danach auf ihre Art mit Literaturwerken befaßten, nur sehr selten sagen; die meisten begehen, ganz abgesehen von der bald nach 1938 um sich greifenden immer stärkeren Deformation und Unkenntnis der Psychoanalyse selbst, Haufen über Haufen ganz ärgerlicher methodischer Fehler, die nur allzu geeignet sind, die Psychoanalyse in den Augen ihrer Feinde herabzusetzen, und sie von ihr selbst freilich unverdientem, von vielen ihrer hier tätig gewordenen wirklichen oder angeblichen Repräsentanten aber nur allzu verdientem wohlfeilem Spott aussetzen. Ich werde mir die Mühe sparen, für das folgende Belege aufzuführen; sie sind Legion, und ich möchte auch den Leser nicht des Vergnügens berauben, sie selber bei ungezielter Lektüre der einschlägigen Elaborate immer wieder erkennen und dingfest machen zu können – und die wertvollen Beiträge dadurch schon nach wenigen Seiten, ja Absätzen, von den wertlosen bis grotesken trennen zu können.
Die schlimmsten Lächerlichkeiten entstammen einer ahistorischen Grundhaltung, die sich wissenschaftslogisch als Verstoß gegen das Prinzip des Minimalismus brandmarken läßt; knüpft jemand z.B. weitschweifige Betrachtungen an die Tatsache, daß der zur Barockzeit tätige Geograph Waldseemüller dem neuen Kontinent, den er nach dessen Erstbeschreiber zu benennen suchte, eine weibliche Endung verpaßte – wie sie alle anderen bekannten Kontinente aus guten Gründen auch schon hatten – und dies damit begründete, daß Länder und ähnliche Dinge »ja nach Weybern benennet« werden, so macht er Freuds Wissenschaft damit mehr als lächerlich – denn aus dieser Tatsache läßt sich mitnichten ableiten, daß der erste Kartograph einer amerikahaltigen Weltkarte homosexuell war oder ähnlicher Mumpitz, sondern nur, daß er wie jahrhundertelang alle Lateinschüler bis mindestens in meine eigene Schulzeit hinein den Satz eingeprägt bekommen hatte: »Die Weiber, Bäume, Städte, Land' / und Inseln weiblich sind benannt.«
Eine andere Peinlichkeit entsteht, wenn fiktiven Figuren wie Hamlet oder Elektra eine eigene verschüttete Kindheit und sonstiges Eigenleben außerhalb der einschlägigen Literaturwerke unterstellt wird; sie gerät ins Quadrat, wenn dies mit mythologischen Figuren gemacht wird, deren Handlungen in der einen Erzählung aus deren Kindheitstraumen aus der anderen, die der jeweilige Erzähler nicht einmal zu kennen brauchte, in Verbindung gebracht, ja abgeleitet werden; derlei hat beispielsweise in vollem Ernst einmal Helene Deutsch mit Apollo und Dionysos gemacht. (Kindheitstraumen oder eine bestimmte Variante des Ödipuskomplexes aber kann natürlich nur der Dichter selber haben, ebenso wie seine Leser oder auch ein bestimmter statistischer Leserdurchschnitt in Häufung oder Seltenheit.) Des weiteren ist bei jeder psychoanalytischen Untersuchung neuerer, d.h. nach 1900 entstandener Werke streng darauf zu achten, ob und wie weit dem Autor die Psychoanalyse bekannt war, d.h. wie weit bei dem jeweiligen Werk oder bestimmten Zügen davon die Gefahr besteht, daß sie bewußt nach von der Psychoanalyse behaupteten Mustern konstruiert worden sind. – Ich denke, daß ich diesen Grundsatz immer in aller Strenge eingehalten habe; meine hier versammelten Beiträge mögen hier auch als Muster nützlich sein. –
Die letzte Vorsichtsmaßnahme ist vor allem deshalb so wichtig, weil eine entscheidende Triebkraft für das Interesse an der Anwendung der Psychoanalyse auf die Literatur (oder Kunst) ja keineswegs nur der Impuls ist, deren Entstehung und Wirkung verstehen zu können, sondern vor allem die Frage, ob die Behauptungen der Psychoanalyse überhaupt stimmen. Wenn Autoren Geschichten nach den Mustern der Psychoanalyse komponieren, so beweist das für deren Berechtigung nicht mehr als analoge Vorgehensweisen auf dem Boden der Astrologie, ein Niveau, auf dem die Feinde der Psychoanalyse sie gerne sähen, ein Ruf, den sie ihr mit unermüdlicher Ungerechtigkeit anzuhängen streben und in den falsche Psychoanalytiker, aber echte Freudhasser sie durch ihre Äußerungen mit Bedacht und Ausdauer bringen; hohnvoll kann ihnen Klein Mäxchen dann zurufen, sie fänden gerade und immer die Ostereier, die sie selbst versteckt haben. Wenn aber die unvoreingenommene Untersuchung unabhängig von der Psychoanalyse entstandener Phantasieprodukte in diesen die gleichen hochkomplizierten und befremdlichen, also gemäß der Wahrscheinlichkeitstheorie nicht und auf keinen Fall öfters zu erwartenden subjektiven Strukturen als deren verborgene (und auch ihrem Produzenten verborgene, daher nur an nebensächlich erscheinenden Indizien nachweisbaren) subjektive Strukturen belegen kann, deren universale oder jedenfalls häufige Existenz in der von ihr beschriebenen Form die Psychoanalyse behauptet, so sind ihre – auf anderem Wege gewonnenen – Aussagen richtig. Außerdem wird durch die Korrespondenz der unbewußten Inhalte von Autor und Publikum – die durch die oben prinzipiell verständlich gemachten heimlichen Mechanismen der »Kunst« ermöglicht wurde – ihre Wirkung erklärbar. Gewiß kann man alle Ergebnisse der vier oder fünf von mir gesammelten vorgeführten Fälle – und die doch insgesamt schon recht ansehnliche Zahl weiterer unter den wirklich guten entsprechenden Nachweisen der Schüler Freuds, in unserer Zeit vor allem von Peter Priskil, dessen erweiterte Sammlung entsprechender Forschungsergebnisse in diesem Jahr in gleicher Ausstattung in diesem Verlag erscheinen wird (Peter Priskil – »Freuds Schlüssel zur Dichtung«) – als Zufälle abtun; doch auf dieses doch schnell mit der Wahrscheinlichkeitsrechnung in Konflikt geratende Argument wird man dann eben mit den Worten Freuds auf das nämliche gegen sein grundlegendes »aliquis«-Beispiel antworten können: »Ich muß es Ihrer eigenen Beurteilung überlassen, ob Sie sich alle diese Zusammenhänge durch die Annahme eines Zufalls aufklären können. Ich sage Ihnen aber, jeder ähnliche Fall, den Sie analysieren wollen, wird Sie auf ebenso merkwürdige 'Zufälle' führen« (GW IV 17). –
Nun ist es an der Zeit, dem Leser einiges über das Zustandekommen dieser Sammlung mitzuteilen. Die älteren der in ihr mitgeteilten Untersuchungen stammen, jedenfalls in publizierter Form, aus jener – verglichen mit der heutigen – unvorstellbar besseren, weil geistigeren und freieren Zeit, in der das Interesse an der Psychoanalyse erstmals seit Hitlers Kahlschlag und Adenauer/de Gaulles Käseglocke in Europa breitere Kreise erfaßte, natürlich vor allem unter dem Aspekt der Realität (d.h. ob es auch stimmt, nicht etwa, ob sich darüber quatschen oder damit Geld verdienen läßt). Obwohl noch sehr jung, d.h. spätestens im vierten Semester meines Studiums stehend, hielt ich, nachdem ein damals vielbeachteter Artikel über »Das Elend der Psychoanalyse« 10) das Interesse auf meine Person gelenkt hatte, an der Universität Freiburg unter der Schirmherrschaft studentischer Gremien und sogar ein bißchen bezahlt ein Seminar über »Psychoanalyse und Literaturwissenschaft« ab, in dem ich zunächst in die Lehre Freuds einführte, dann Märchen als sozusagen kollektive Literatur – oder Träume – vorführte, erst, zur Demonstration der Reaktionsbildung und Rationalisierung, das recht einfach strukturierte von den »Sterntalern«, dann das entschieden kompliziertere »Schneewittchen« zur zusätzlichen Demonstration des Ödipuskomplexes, dann schließlich, da ja »Literatur« versprochen worden war, Jean Pauls wegen ihrer Kürze und Konzentriertheit ausgewählte Romaneinlage aus »Siebenkäs«: »Rede des toten Christus, daß kein Gott sei« zur Demonstration aller dieser und einiger weiterer Phänomene. Ich fand dabei aufmerksame Schüler und Mitschreiber, von denen es einige relativ weit gebracht haben; für mich selber blieben die Publikationsmöglichkeiten extrem beschränkt, aber einige wenige versteckte hatte ich dadurch für die Folgezeit ertrotzt, und diesen sind die Aufsätze über Panizza und Arrabal entnommen. Derjenige über Beckett wäre ihnen – als einer der fünf Vorträge auf dem hauptsächlich von Cremerius und Wyatt organisierten ersten Freiburger Kongreß über Psychoanalyse und Literaturwissenschaft, pikanterweise in kircheneigenen Räumen abgehalten – auch noch gefolgt, hätte er nicht durch seine offenkundige Treue zu Freud einen solch scharfen und anstößigen Kontrast zu den anderen dortigen Vorträgen gebildet. So konnte ihm das Sakrament der Druckerschwärze erst zehn Jahre später gereicht werden, als es mir endlich gelungen war, eine eigene wissenschaftliche Zeitschrift aufzubauen. Ihr ist auch noch der Aufsatz über Orwell entnommen, der noch viel länger auf besagtes Sakrament hatte warten müssen; derjenige über Apuleius' Märchen ist dagegen Teil eines altphilologischen Buches, das ich ohne alle Probleme in einem renommierten Amsterdamer Fachverlag gleich nach seinem Abschluß hatte unterbringen können. Er erscheint hier aufgrund neuer Erkenntnisse ziemlich überarbeitet.
Ich werde alle diese Arbeiten hier als Beispiele für angewandte Psychoanalyse auch nach dem Tode Freuds und der nahezu beispiellosen Zersetzung seiner Lehre in dessen Gefolge – das einzige mir bekannte Beispiel ähnlichen Verfalls bietet eigentlich nur noch der Marxismus seit und mit Stalin, also nach dem Tode Lenins – fast unverändert veröffentlichen, schon allein, um eventuell spontan nachgewachsene, aber versprengte und desorientierte, in der Isolation verkümmernde Anhänger der authentischen Psychoanalyse zu ermutigen. Die Veränderungen gegenüber der veröffentlichten Erstfassung habe ich deshalb auf ein Minimum beschränkt, weil sich fast keine Gründe zur Veränderung ergaben; es sind – mit einer Ausnahme – keine neuen Tatsachen aufgetaucht, die Korrekturen nötig gemacht hätten 11). Die eine Ausnahme betrifft die Arbeit über Beckett; seit ihrem Erscheinen sind in der Flut der Beckett-Literatur nur zwei neue Werke aufgetaucht, die ernste Beachtung verdienen, einmal die mit Recht weltbekannte Biographie von Deirdre Bair 12), welche einen übernommenen Irrtum meinerseits hinsichtlich einer übersehenen Ironie Becketts in einer autobiographischen Angabe korrigierte, und die zu Unrecht wenig bekannte, sehr anregende Studie von Ralph Bisschops, »Die Metapher als Wertsetzung« 13) (p.253-383), die zwar im abschreckenden akademischen Gewande einherkommt, aber die wohl originellste und dennoch stets rationale und verifizierbare Anbindung der Beckettschen »Metaphysik« anhand von dessen »Kleidungsmetaphorik« an die biblisch-talmudische Tradition liefert, die wohl möglich ist. Wenn wir dank Bair wissen, eine welch unangenehme Zeitgenossin Becketts Mutter war (die sich als verarmte Aristokratin dem gutmütigeren wohlhabenderen, aber über schlechtere Manieren verfügenden Vater entschieden überlegen fühlte) und wie der kleine Samuel allen Grund hatte, bei seinem Vater vor ihr – freilich unzuverlässigen – Schutz zu suchen, dabei aber allerhand unangenehme Beobachtungen von dessen mangelhafter sagen wir: Analkultur machen mußte, andererseits aber durch Bisschops' philologisch angenehm korrekte und Spekulationen stets als solche kennzeichnende Studie wahrnehmen müssen, wie tief Beckett in den verstecktesten Einzelheiten geradezu obsessiv alttestamentliche und bisweilen talmudische Materialien, insbesondere grausamer und ungerechter Art, auffällig oft mit anrüchigen bis offen ekelhaften Motiven verwebt, so wird man die zugleich biographische wie religiös-kulturelle Tiefendimension der zentralen paradoxen Jahwe-Anklage aus dem »Endspiel«: »Le salopard! Il n'existe pas!« mit noch weitaus geschärfterem Auge wahrnehmen können als der rein psychoanalytische Indizienschluß, den ich dem Leser vorlegen werde, allein ermöglicht. Doch sollen all diese Aufsätze ja nur Schlaglichter auf bestimmte Probleme anhand ausgewählter Psychostrukturen werfen, die gewöhnlich schon im Titel auftauchen; mit umfassenden Arbeiten etwa in der Art Bonapartes oder Eisslers wollen sie keineswegs rivalisieren. –
Zu Panizza erschien das Buch von Michael Bauer, Oskar Panizza, München/Wien 1984 (C. Hauser), das als erster biographischer Versuch bei schwieriger Quellenlage gewürdigt werden sollte, aber zu Korrektur oder Verifizierung meiner Schlußfolgerungen nichts beiträgt; denn wir erfahren aus ihm nichts über etwelche Perversionen in des Dichters in jedem Fall kümmerlichen Sexualleben. – Arrabal hat selber durch sein seither erschienenes Werk »Hohe Türme trifft der Blitz« 14) meine gegebenen Prognosen mehr als bestätigt, man kann so ziemlich sagen: aufs schlimmste. Jedenfalls hat er, gewiß begünstigt von den historischen Umständen, aber keineswegs von ihnen genötigt, seinen unbewußten Vatermord zugunsten seiner profaschistischen Mutter allmählich abgeschlossen, auf jeden Fall die dazugehörigen Schuldgefühle rationalisierend weiter reduzieren können; ich verweise allein schon auf den Titel der Erzählung, dessen Deutung mir der Leser nach Lektüre meines nachstehenden Aufsatzes wohl abnehmen kann; er wird dann auch den Sinn dieser zugegebenermaßen dunklen Andeutungen verstehen können. – Zu Orwell ist mir seither nicht nur die später gewürdigte Arbeit Plancks bekanntgeworden, sondern vor allem die ebenso fleißige, zuverlässige und gewissenhafte wie psychoanalysefeindliche Biographie Cricks 15), die sehr gegen dessen Willen das tiefere Verständnis einiger Charakterzüge und Motive Orwells aus dessen Kindheitsbeschädigungen erlaubt, die dem Publikum vorzuenthalten nahezu ein Unrecht wäre. Gleichzeitig wirft seine äußerst heftige Bekämpfung der Ansicht, Kindheitsleiden und -schäden, keineswegs nur unbewußt gewordene, könnten das Material zu erheblich später entstandenen Werken eines Dichters bzw. deren Grundstruktur abgegeben haben, derart grundsätzliche Fragen auf, daß es sinnvoll erscheint, sie wegen ihrer exemplarischen Bedeutung in allen Einzelheiten vorzuführen und zu diskutieren. Es scheint mir, daß die Zurückweisung dieser meiner Ansicht nach völlig falschen Vorstellung geeignet ist, der Menschheit bei einer sehr fundamentalen Aufgabe zu helfen, nämlich beim Kampf gegen die Bagatellisierung und für die Ernstnahme individuellen Leides. Deshalb habe ich mich entschlossen, dem Aufsatz über Orwell nicht nur den Anhang über Planck, sondern auch über »Orwell und das sogenannte Proletariat« folgen zu lassen, der neu geschrieben wurde.
Eingegriffen in die Textgestalt habe ich ansonsten nur zwecks Vereinheitlichung der aufgrund der verschiedenen Verlagswünsche unterschiedlichen Zitierweise und typographischen Gestaltung; außerdem habe ich mir erlaubt, ein paar akademische Schnörkel, die unter den ursprünglichen Publikationsbedingungen manchmal nicht zu vermeiden waren, aber zum Verständnis des Gedankengangs nichts beitragen, sondern nur stören, zu beseitigen. Auch diese Veränderungen habe ich minimal gehalten. –
Die lange Geschichte dieser Veröffentlichung brachte es mit sich, daß ein wesentlich älterer Vorspann zu ihr existiert, der auf seine Art durchaus interessant bleibt – mindestens als Dokument einer Zeit größerer, heute eigentlich unvorstellbarer intellektueller Freiheit und Direktheit. Folglich war er, schon aus purem Verständlichkeitsverlust, nicht mehr direkt brauchbar; ich sehe allerdings keinen Grund, auch nur einen einzigen seiner hoffentlich nicht langweiligen Gedanken zurückzunehmen. Folglich habe ich ihn als »Nach-Vorwort« der geneigten Leserschaft zugänglich gemacht; sie wird dort erfahren können, was es mit ihm auf sich hat. Und nun übergebe ich ihrer Aufmerksamkeit und ihrem Urteil den exemplarischen Teil.
Fußnoten:
1) Fritz Erik Hoevels, Eine chinesische Harnreizphantasie, System ubw – Zeitschrift für klassische Psychoanalyse, 9. Jahrgang, Heft 1, Mai 1991.
2) Beim Europäer verweist dieser Aspekt auf den handwerklichen Ursprung der Bildenden Künste, die – durch die Gemeinsamkeit der langwierigen und konzentrierten Ausbildung – als näher mit der Musik als mit der Literatur verwandt empfunden werden, während beim Chinesen zwar auch das lange und konzentrierte »Lernen«, die achtunggebietende Spezialausbildung, dahintersteht – aber mit dem Pinsel, weswegen (Tusch-)Malerei und Dichtung als etwa gleichwertig und gleichartig empfunden werden (und zwischendrin die bei uns kaum beachtete Kalligraphie), die Musik jedoch eher »außerhalb« steht, traditionell kaum als »Kunst« empfunden wird (so wenig wie die Bildhauerei) und auch tatsächlich vergleichsweise unentwickelt geblieben ist.
3) Karel van het Reve, Dr. Freud und Sherlock Holmes, Frankfurt/M. 1994 (Fischer Tb. 11834, Reihe »Geist und Psyche«).
4) Op. cit., p.95. – Diese Menschengruppen werden als löbliches Ideal Gespenstergläubigen und Literaten (im weiteren Kontext natürlich auch allen anderen Trägern von van het Reve unsympathischen Anschauungen) entgegengestellt, nämlich wegen der bei ihnen so »üblichen Kontrolle« der Fakten; die Stelle wiederholt, nur kategorischer, dasselbe Lob derselben Wissenschaftsvorbilder eine Seite zuvor.
5) Genaugenommen ist es der vorletzte; der wirklich letzte ist aber nur ein eitles Anhängsel ohne Zusammenhang mit dem Rest.
6) Stellen wir uns zum Kontrast die identischen Inhalte ohne die analysierten Mittel vor! »Als der Kölner Arbeiter Sch. die Zentrifuge reparieren wollte, bemerkte er, schon im Innern befindlich, wie sein Kollege T. diese anschalten wollte; seine rasch ausgestoßene Warnung verhallte jedoch im Geräusch der sofort auf Touren gelangten Maschinentrommel ... usw.« – Auch jene »blutige Sensationslust«, die uns so oft neugierig zu Unfällen treibt, wird hier gar nicht unbeschwert genossen, ja kaum vor sich und anderen zugegeben ... politisch auf Linie (»correct«) ist sie auch nicht ... Man vergleiche zu der ganzen Geschichte, besonders unter formalem und technischem Aspekt, Wort für Wort ihre Parallele in Arno Schmidts Erzählung »Windmühlen« (Zürcher Ausgabe VIII 62 sq.).
7) A. v. Winterstein / E. Bergler, Zur Psychologie des Pathos, Imago 21 (1935), p.311-319.
8) Hellmuth Kaiser, Franz Kafkas Inferno, Imago 17 (1931), p.41.
9) Hanns Sachs, Die andere Seite, Imago 1 (1912), p.197.
10) Freiburger Studentenzeitung Nr.17 (1967), H.7; Antworten von Walter Schraml ebd. Nr.18, H.1, p.68; von Armand Mergen, Herbert Marcuse und Friedrich Fürstenberg ebd. Nr.18, H.2, p.12.
11) Aus diesem Grund habe ich auch synchrone Anspielungen überall stehenlassen; heißt es etwa: »vor wenigen Wochen«, so ist natürlich an das Ersterscheinungsdatum zu denken usw.
12) Deirdre Bair, Samuel Beckett, Erstausgabe New York 1978, dt. Hamburg 1991.
13) Ralph Bisschops, Die Metapher als Wertsetzung. Novalis, Ezechiel, Beckett, Duisburger Arbeiten zur Sprach- und Literaturwissenschaft 23, Frankfurt/M. et alibi 1994.
14) Span.: La torre herida por el rayo, Ediciones Destiner S.A. 1983; dt. Köln 1986 (Kiepenheuer & Witsch).
15) Bernhard Crick, George Orwell. Ein Leben, Frankfurt/M. 1984.
Dr. Fritz Erik Hoevels studierte Psychologie, Altphilologie und Literaturwissenschaft in Freiburg i. Br., wo er als niedergelassener Psychoanalytiker tätig war. 1983 trat er durch sein Buch »Marxismus, Psychoanalyse, Politik« hervor, das einiges Aufsehen erregte. Näheres über seine öffentliche Tätigkeit, die ihn bis heute zu einer hochbesetzten Haßfigur der Kirchen, ihrer Trommler und Sympathisanten gemacht hat, findet sich in der historisch aufschlußreichen Dokumentensammlung »30 Jahre Ketzer«. Seine Untersuchung über den Beitrag Wilhelm Reichs zur Psychoanalyse – bevor dieser wohl fähigste Schüler Freuds unter dem Druck seiner vielen Verfolger geistig zusammenbrach – dürfte als Standardwerk zum Thema gelten. Zahlreiche Veröffentlichungen zur Anwendung der Psychoanalyse (Therapie, Literatur, kollektive Phantasien, besonders der Religion) sowie zu Zeitfragen. Hoevels ist ferner Begründer und Mitherausgeber der Zeitschrift »System ubw – Zeitschrift für klassische Psychoanalyse«. Er ist deutscher Herausgeber der wichtigsten Werke des englischen Althistorikers Hyam Maccoby (der nüchterner und treffender als jeder andere die Entstehung des Christentums enträtselte). Seine zwei Bände »Wie unrecht hatte Marx wirklich?« können in ihrer analytischen Tiefe und Schärfe als neue Maßstäbe setzendes Grundlagenwerk gelten.
Fritz Erik Hoevels:
Psychoanalyse und Literaturwissenschaft
Grundlagen und Beispiele
282 S.
EUR 13,-
ISBN: 978-3-89484-803-3
(ISBN-10: 3-89484-803-0)
Erschienen 1996