30 Jahre Ketzer
Der interessanteste Bohrkern aus den Sedimenten der Studentenbewegung bis ins traurige Alluvium der pax americana: Über 200 Analysen, Stellungnahmen und Flugblätter der MRI – Bunte Liste Freiburg – Bund gegen Anpassung (1967-1997)
Dieser einzigartige Band ist der verborgene rote Leitfaden durch die jüngste Geschichte. Von der Studentenbewegung bis heute wird von der weltweit vermutlich einzigen Radikalopposition in der Tradition Marx' und Lenins ebenso wie Freuds und Reichs Stellung bezogen zu allen wesentlichen Ereignissen und Streitpunkten.
Auszug aus dem Inhaltsverzeichnis
Vorwort · Das Elend der Psychoanalyse · Anti-Popper oder: Die Austreibung der Kritik aus der Wissenschaft · Aufstand der Frauen im SDS (Feminismus) · Massenneurose Religion · Kirchenaustritt · Paragraph 218 · Nacktbaden · Frauenrolle – Männerrolle · Rocklänge und Brusttabu · Berufsverbote · Heuchler Brandt · Türkischer Faschismus · Die Rolle von Sozialdemokratie und Kirche in der portugiesischen Konterrevolution · Filbingers Liebe zur Freiheit · Zur Psychologie der Folter · Die SPD gedenkt der Sozialistengesetze · Mit Gott und den Faschisten · Die Frage nach dem Sinn des Lebens · Der »Verfassungsschutz« und seine politischen Helfer · Bahro ist frei – P. P. Zahl sitzt noch immer! · Dialektischer Materialismus · BZ von A bis Z – Wie eine Nachricht entsteht! · Wie alternativ sind die Grünen? · Wojtyla fällt in der BRD ein · Die Grünen, Strauß und die Krise der Linken · Was ist in Persien los? · Verstümmelung auf Krankenschein · Warum die AMERIKA-WOCHE? · Was ist Faschismus? · Verfolgung der Sinti und Roma – eine deutsche Tradition? · Rassismus in Südafrika · In eigener Sache II: Wer wir wirklich sind und was wir wollen · Friedensbewegt und doch in Treue fest · Der NATO-Doppelbeschluß und die SPD · Pol Pot · Nicaragua · Grenada · Die Linke und das Waldsterben · Genbastelei – ein Privileg Gottes? · Libyen · Auch bei der größten Schweinerei: Alice Schwarzer ist dabei! · Holocaust · Jenningers Rücktritt – Sieg der Heuchler! · Der Fall Rushdie und die Feigheit des Westens · Tian-an-men-Massaker · Das Kopftuch und die weltliche Schule · Bhagwan – ein Nachruf · Bismarck hui, Hussein pfui! · Kein Herz für Scheiche – Kein Blut für Öl! · Tierversuche – ein Menschenrecht! · Zum Mahmoody-Film · Offener Brief an alle, die sich überlegen, die »Republikaner« zu wählen · Der Prozeß gegen Karl Kielhorn und Gerhard Bögelein – oder: Die Offenkundigkeit der Rechtsnachfolge · Zur Hetzkampagne gegen Sinéad O'Connor · Die Umtriebe des Leihzaren Boris oder: Freier Westen helau! · Seehofers »Enthüllungen«: Drama oder Komödie? · Berufsverbote für Republikaner: Willys Wiederkehr · Jugoslawien: Wie Hitler den Krieg gewann · Hitlers zweimal getötete Opfer · Verhüllungszwang und Feminismus · Wie der Erfolg im Schulkreuz-Streit zustande kam · Wer ist die »herrschende Klasse«? und vieles, vieles mehr.
Auszug aus dem Vorwort von Fritz Erik Hoevels
Die sogenannte Studentenbewegung entstand zu einer Zeit, die ganz unmittelbar der allerelendesten, muffigsten, erstickendsten folgte, welche die Welt mutmaßlich je gesehen hat, abgesehen vielleicht von der Restaurationsepoche nach der Niederlage Napoleons. Sie wurde fast ausschließlich von Menschen getragen, die im lähmend-würgenden Gestank dieser sogenannten Adenauer-de-Gaulle-Ära aufgewachsen waren.
Es hat zweifellos viele Perioden der Menschheitsgeschichte gegeben, in denen auffälliges Blutvergießen und ausgesuchte Grausamkeiten, katastrophale materielle Mangelerscheinungen, sensationelle Massenhinrichtungen oder sensationelles Massenelend den oberflächlichen Betrachter zu der Ansicht verleiten können, das durchschnittliche Leben und Empfinden der Bewohner jener Epochen – man kann Räume wie Zeiten bewohnen, besonders zwangsweise – sei niedergedrückter, niederdrückender gewesen als dasjenige der genannten – Blut vergossen diese neuinstallierten »Staatschefs« von Uncle Sams Gnaden, die ersten europäischen seit den Religionskriegen, deren Staaten, »dank« Hitlers Zerstörungswerk, ihre Souveränität faktisch verloren hatten und zu US-Protektoraten heruntergekommen waren, ja fast gar nicht, so wenig sie andererseits als klassische Demokraten im Sinne der Antike oder der Französischen Revolution gelten konnten –, aber nicht in Litern unschuldig vergossenen Blutes oder in Kilogramm unterernährungsbedingten Untergewichts mißt sich normalerweise die Stimmung der Menschen. Noch mitten in den gröbsten, augenfälligsten materiellen Nöten kann die Hoffnung entstehen, die Idee, da »durchzumüssen« zu einer besseren und gesicherten Zukunft, da es möglich sein könnte, mit den – menschlichen – Verursachern von Unrecht und Mangel auch eben diese beiden loswerden zu können; wäre es den europäischen Völkern einschließlich, das ist als anti-nationalborniertes Gegengewicht unverzichtbar, des deutschen gelungen, Hitler und seine freiwillige Gefolgschaft aus eigener Kraft loszuwerden, so hätte sich dieser ersehnte, von den Besten auch unter Einsatz ihres Lebens ersehnte, Zustand sehr weitgehend auch wirklich eingestellt, hätte die Hoffnung nicht getrogen. (Um Mißverständnisse zu vermeiden: unter Gegnern Hitlers verstehe ich nur diejenigen, die gegen ihn waren, weil sie alles oder das Wesentliche von dem haßten, was er verkörperte, nicht deutschnationale Opportunisten, die vom Obrigkeitsstaat per Putsch zu retten suchten, was zu retten schien, als die militärische Lage und Hitlers Starrsinn diesen Obrigkeitsstaat in den Abgrund zu reißen, also etwa das angedeutete Ziel der genuinen Hitlergegner in Reichweite zu rücken drohte, und die heute in einem häßlichen Mythos als »die Schnellmerker des 20. Juli« gefeiert werden, die Namen echter Märtyrer im Kampf gegen das Hitlersystem aus dem Straßenbild obszön verdrängend.)
Aber das eben gelang nicht; das Ende der Hitlerherrschaft wurde keine Befreiung, sondern nur eine militärische Niederlage. Die wenigen überlebenden Hitlergegner wurden von den siegreichen Militärmächten am Reden und oft auch eine ganze Weile lang an der Rückkehr gehindert, bestenfalls im Gefügigkeits- oder Eignungsfall als Galionsfiguren der zweiten Reihe aufgebaut; mit den wenigen, aber unter manchmal beträchtlichen Opfern entstandenen Arbeiter- und Soldatenräten, denen es bisweilen gelungen war, die lokalen Statthalter Hitlers zu stürzen und eine begrenzte, aber in ihrem Bezirk echte, weil konkurrenzlose Macht zu übernehmen, wurde von den einrückenden siegreichen Truppen nicht verhandelt; Hitlers Gegner waren zu schwach geworden, um sein verhaßtes System abzulösen, und die Macht übernahmen statt dessen die Vertreter oder einheimischen Marionetten siegreicher Mächte, Mächte, deren Verhältnis zur Hitlerei, vornehm gesagt, immer wertneutral gewesen war und, vorher wie nachher, d.h. vor dem wie während des Krieges, ausschließlich militärisch-psychologischem, kriegsverlaufsbedingtem Kalkül folgte. Sie wurden Europas neue Vormünder; war es auch den Faschismus, an seinen Rändern trotz allem und immer noch allerwilligst geduldet, ja gestützt, in seinem Kernbereich los, befreit war es nicht. –
Aber das durften die neuen europäischen Regierungen, besonders die deutschen, nie und nimmer zugeben; beider jeweilige Vormünder hießen amtlich »Verbündete«, und die Existenz der jeweiligen »großen Brüder« beider Seiten rechtfertigte die fürsorgliche Besatzung der eigenen (wie man inzwischen ihre einseitige Fortdauer entschuldigt, habe ich nie richtig herausbekommen). Die DDR bzw. die restlichen »Ostblockstaaten« hatten ihre Sonderentwicklung und können für unsere Ausführungen außer Betracht bleiben, da sie für die »Studentenbewegung« bedeutungslos blieben; im westlichen Teil herrschte dagegen rekordhafte Verlogenheit und stumpfer, geistfeindlicher Zwang, der trübste Hoffnungslosigkeit verbreitete. Die Überlebenden der authentischen Opposition gegen Hitler wurden, oft personalidentisch, von der gleichen Justiz gejagt, die sie schon unter Hitler selbst gejagt hatte; die SPD z.B., eine der drei Lizenz- oder Kartellparteien von Uncle Sams Deutschland, schloß einmal Mitglieder, die eine in den präsentierten Fakten von niemandem bestrittene Wanderausstellung ›Ungesühnte Nazijustiz‹ veranstalten wollten, ganz offen mit der Begründung aus, dies könne die Justiz bei ihren Kommunistenverfolgungen einschüchtern ... braucht jemand, der sich diese gern verschwiegene Anekdote auf der Hirnhaut zergehen läßt, noch viel Phantasie, um sich den »freiesten«, auf jeden Fall aber amerikanischsten »Staat, den es je auf deutschem Boden gab« – freilich titulierte er sich so erst später, als er seine eigene Verfassung gründlich gebrochen hatte – atmosphärisch hervorragend genau vorzustellen? Einen Staat, der die opportunistischsten 80, wenn nicht 90% der alten NSDAP in seinen Kartellparteien aufgesogen hatte, von Anfang an Nazibeamte gegenüber demokratischen Newcomern unter dem Schutz der neuen Besatzungsmacht privilegierte – diese wurden schnell wieder entlassen, wenn alte, d.h. auf jeden Fall statistisch wesentlich eher nazigenehme Amtsinhaber Rechte anmeldeten, während äußerlich und öffentlich wohltätige Weihrauchschwaden die alten Hakenkreuze allmählich verhüllten –, einen Staat, der am besten durch seine in den Sattel gehobene Spitze zu charakterisieren war: Dulles-Schützling und Superkatholik Adenauer mit seiner rechten Hand Globke, dem als besonders radikalen Mitschöpfer der Nürnberger Gesetze bewährten Nazijuristen ... – so sah es jedenfalls aus, und jeder spürte, jeder wußte es.
Wie wirkte die solcherart entstehende Atmosphäre auf Kinder, die sie zwangsweise einatmen mußten? – Wie die neuen Vormünder gewollt und geplant hatten, hatte der breite Mantel der katholischen Kirche (und die Talare der endgültig zu ihrem Juniorpartner abgerutschten EKD) die vielen Hakenkreuze zu decken, und unter ihm stank es erwartungsgemäß entsetzlich. So wie das deutsche Kapital, das mit seinen traditionellen Politagenturen nicht mehr leicht durchkam, Hitler an der Macht ein paar Freiheiten für spezifische Marotten lassen mußte – die dann die vielzitierten zusätzlichen sechs Millionen Unschuldiger mit dem Leben bezahlten –, so mußten die US-Amerikaner, wenn sie den in seiner nationalen Loyalität auf die neuen Herren umgepolten, aber in seiner antikommunistisch-antiaufklärerischen Zielsetzung unveränderten Nazistaat unter katholischem bzw. überhaupt klerikalem Deckmantel wieder restaurieren und ansonsten an ihrer Leine laufen lassen wollten, dem dafür unverzichtbaren Klerus etliche Sonderwünsche erfüllen und Extravaganzen gestatten, nicht anders, wenn auch diesmal ohne Blutvergießen, als Hitler selbst seinen kroatisch-vatikanischen Schützlingen etliche für seinen Krieg eher ein bißchen dysfunktionale Eigenmächtigkeiten und spezifische Tollheiten hatte konzedieren müssen; und die ließen nicht lange auf sich warten, das Volk einschließlich der Kinder hatte die Suppe auszulöffeln, in welche der Klerus seine schwarzen Extrawürstchen hineingeschissen hatte: Kuppeleiparagraph (als das wohl widerlichste von allen), Homosexualitätsverbot, schärfste antisexuelle Filmzensur, Gotteslästerungsparagraph, Klerikalisierung der Kindergärten und Sozialeinrichtungen und sackweise weitere Kirchen-Privilegien, die in der Welt wohl ziemlich einmalig dastehen. Für den Rest der westeuropäischen Staaten, die ja jetzt alle unter die vielleicht weniger krasse, aber unbestreitbare Vormundschaft der USA geraten waren, vor allem Frankreich, galt gedämpft, aber in der Tendenz unverkennbar das gleiche. Doch mit der teilmittelalterlichen Gesetzesgrundlage, die sich noch wesentlich genauer darstellen ließe, ist noch nicht alles beschrieben, obwohl es vorstellbar wird.
Denn wie man das übelriechende Produkt als unwissendes, unkundiges kindliches Opfer erlebt, darüber sagt die bloß juristisch-historische Beschreibung und Analyse noch nicht alles. Dieses Gebräu aus kleinkariertester, hämischer Selbstgerechtigkeit, alles durchstinkender Säuerlichkeit, bestialisierter und erniedrigter, in anaerobe Heimlichkeit gestopfter Sexualität, wie sie sich heute in den radikalislamischen Staaten wieder oder noch als gutes Anschauungsobjekt präsentieren kann, muß man erlebt haben, um das schwarzweiße oder besser: grau-graue Lebensgefühl dieser mutmaßlich drückendsten, ausweglosesten Periode mindestens der Neuzeit – mit der Ausnahme der französischen Restaurationsperiode vielleicht, wie ich schon einräumte – nachvollziehen zu können; ein Gebräu, das aus der beschriebenen Gesetzeslage wie dem faktischen Besatzungsstatus, der einen Aufstand gegen die aufgenötigte Regierung hoffnungslos erscheinen ließ, ganz organisch hervorquoll, denn das Schlechte im Menschen und besonders im Familienvater oder gar der Hausfrau wird unwiderstehlich gestärkt, wenn es staatlich gefördert wird. Dieses besagte Gebräu bekam den wenigsten, die es schlucken mußten; die meisten sind daran seelisch krepiert, verloren jede Persönlichkeit und authentische Erinnerung, wurden Zombies i.S. der »Identifikation mit dem Aggressor« oder retteten ihre Persönlichkeit gerade noch, aber um den Preis tiefer Depression und der steten Bereitschaft zu sterben.
Aus diesen Leuten, aus diesen wenigen seelisch schwer beschädigt, aber gerade noch ohne echten Gehirnwäscheerfolg Überlebenden einer gefesselten, würgend-ätzenden Kindheit, entstand die Studentenbewegung. Ich war einer davon, damals etwa der Jüngste, der irgendeinen Namen hatte, aber zweifellos einer.
Deshalb ist es wohl nicht ganz unangebracht oder eitel, wenn ich über meinen persönlichen Weg zum SDS, dem eigentlichen Träger der sog. Studentenbewegung, ein paar Sätze verliere.
Meine Herkunft kann recht gut als »gehoben kleinbürgerlich« charakterisiert werden, meine Familie als »mäßig aufgeklärt/rechtsliberal«, wobei die Betonung auf »rechts« liegt. Was Hitler, wenn man mal ganz ehrlich war, außer seiner unruhestifterischen und daher sogar katastrophenträchtigen Art wirklich und grundernsthaft vorzuwerfen war, war eigentlich nur sein Antisemitismus; daß in den KZs auch andere Menschen als Juden umgebracht worden waren, fand eine emotional deutlich schwächere, wenn nicht, in einem bestimmten Fall, höchst unterkühlte Ablehnung, um nicht zu sagen: wortlose Zustimmung. Denn Haßobjekt Nr.1, mit einem so blanken und fanatischen Haß versehen, daß jeder rationale Abwägungsversuch, schon abgesehen von den physischen Gefahren, die seine Äußerung mit sich gebracht hätte, einem buchstäblich im Halse stecken blieb, war die KPD. Hitler blieb natürlich Haßobjekt Nr.2, das schon, aber er hatte den unzweifelhaften Vorteil, daß er tot und überstanden war, während die KPD, wenngleich sehr dezimiert, noch existierte, und die Sowjetunion erst recht. Das soll nicht heißen, daß die gegen sie gerichteten Vorwürfe samt und sonders aus der Luft gegriffen gewesen wären – irgendwie blieb sie sehr unheimlich – und daß man sie, ähnlich wie ihre Satellitenstaaten, nicht verlassen konnte, war ein durchschlagender Beweis, daß viele dieses offensichtlich wollten – wo ein Verbot ist, muß auch ein Wunsch bestehen, und dieser wird zweifellos einen Grund haben; so weit kam ich als kindlicher bis halbkindlicher Zwangszuhörer auch ohne Freud. Aber während die Vorwürfe gegen Hitler mühelos verständlich waren – und außerdem sehr stark ausweitbar, wie ich bald herausfand – und sich sehr leicht aus ihrem Inhalt erklärten, blieben diejenigen gegen die SU sehr viel rätselhafter, und man spürte atmosphärisch, daß sie auch dann, wenn sie sachlich gerechtfertigt waren, nicht wirklich und letztlich aus dem angegebenen Grund heraus erhoben worden waren, sondern aus einem verborgenen, versteckten, irrationalen, wahrscheinlich unreinen, auf keinen Fall aber aus bloßer Liebe zu Freiheit und Rechtsstaatlichkeit. Denn das heimliche, aber spürbare politische Ideal der Familie, von ihren verschiedenen Mitgliedern mit unterschiedlicher Intensität und Radikalität vertreten, aber von keinem – außer mir natürlich – ernsthaft abgelehnt, war eine Art diskreter Polizeistaat, der spektakuläre Blutrünstigkeiten und öffentliche Mobilisierungen nach aller Möglichkeit vermeidet, aber mindestens erstere, unter Beachtung des Lärmverbots und der Aufwandsminimalisierung, auch nicht scheut, wenn anders er seinen Zweck nicht erfüllen kann, nämlich Angestellte und Kinder verläßlich ihren »Arbeitgebern« und Eltern niederzuhalten und dafür möglichst wenig Steuern zu verbrauchen. (Wenn der gleiche Zweck mit Wahlergebnissen zu erreichen war, sprach das keineswegs gegen, sondern nur für das Verfahren – aber der höhere Zweck blieb, das war zu spüren, doch der obengenannte.)
Ich schrieb oben: »außer mir natürlich«, und das klingt so, als hätte ich als Kind schon politische Überlegungen gehabt oder gar Standpunkte bezogen. Das wäre selbstverständlich falsch, weil unmöglich, und bewußt habe ich – bis etwa in mein zwölftes Lebensjahr – den ganzen Scheiß auch so gut es ging übernommen und leidlich geglaubt (nur daß ich in meiner tiefsten Seele gegen Stalin einfach nicht den gleichen Haß wie gegen Hitler aufbringen konnte; die Reihenfolge blieb umgekehrt, da ich Hitler durch Fragen und Bücher allmählich immer besser kennen- und einschätzen lernte und alle Informationen über ihn sehr kongruent fand – natürlich hätte ich das nicht so ausdrücken können, es blieb Gefühl, aber das ist Nebensache –, während ich Stalin zwar immer noch, und sicher zu Recht, schauerlich und abstoßend, aber dabei als immer rätselhafter, widersprüchlicher und somit ungreifbarer erlebte. Denn vom Verrat der russischen Revolution konnte ich ja wirklich nichts wissen – von wem auch?!). Aber ich spürte dunkel, daß zwischen diesen politischen Präferenzen und strafloser Kindesmißhandlung ein innerer Zusammenhang bestand, und deshalb kann ich sagen, daß, wenn wieder einmal die anzuhörenden politischen Kommentare kamen, eine wortlose Opposition in mir erwachte, auch wenn ich später, etwa mit elf, die unersättlich aggressive, erzreaktionäre FAZ, das Familienblatt, zu lesen begann, weil ich mich dazu verpflichtet fühlte, und daranging, auf der Basis einer Fetischisierung »freier Wahlen«, wie sie ja auch inzwischen von der Schule souffliert worden war, eine Apologie des aggressiven Antikommunismus zu entwickeln. Ganz wohl fühlte ich mich dabei aber nicht.
Man wird bei alledem bemerkt haben, daß für meine Familie das Adenauerregime fast maßgeschneidert war, und wenn die katholische ebenso wie die hitlerische Kröte, aus deren Laichschnüren wohl alle CDU-Quäppchen der Zeit geschlüpft sind, die nicht direkt aus dem »Zentrums«-Tümpel stammten, wenn sie nicht zum Stichtag schon das reife bis überreife Froschalter erreicht hatten, nicht ganz leicht zu schlucken war, so hatte sie der fanatischere und gewaltbereitere Teil der (Groß-)Familie doch ganz tapfer heruntergewürgt – der andere Teil blieb auf schwacher Distanz im Sinne des konservativen Liberalismus – und hatte an besagter CDU-Herrschaft höchstens eine gewisse von den Umständen erzwungene gemäßigte Sozialstaatlichkeit auszusetzen, die aber mit der Notwendigkeit der »richtigen Wahlergebnisse« voll gerechtfertigt wurde – »es können halt nicht alle FDP wählen«. Denn zweitmeistgehaßter Gegenwartsstaat war durchaus nicht das faschistische Spanien, o nein, sondern vielmehr das wohlfahrtsstaatliche und darum steuerintensive Schweden. Der SPD wurden dementsprechend und unrealistisch wohlfahrtsstaatliche Absichten unterstellt, was einen gewissen Haß mobilisierte, wenngleich ihre Lakaiennatur schon dann und wann gerochen wurde, was sich in »gutmütigen« Witzen niederschlug. (Da der Haß scharfe Augen hat, waren diese Bemerkungen schon hin und wieder recht treffend.) Aber die volle, tobende Vernichtungswut blieb der KPD reserviert.
Man kann davon ausgehen, daß wohl praktisch alle kleinbürgerlichen Familien der Adenauerzeit, ob gehoben oder nicht, ziemlich ähnlich geartet waren, etliche ein bißchen weniger verkrampft, andere noch ärger, aber alle durch die gleiche politische Gefühlsstruktur, beschränkteste Selbstgefälligkeit und oft genug hämische, staatlich abgesicherte Selbstgerechtigkeit verbunden. Aus ihnen aber kam die ganz erdrückende Mehrheit der SDS-Aktivisten; mein Fall kann daher, individuelle Extras einmal abgezogen, als durch und durch gewöhnlich und damit typisch gelten. Es wird darüber hinaus auch aufgefallen sein, daß die typische systemkonforme Kleinbürgersfamilie der Adenauerzeit, ein paar inzwischen durch Fernseh-Anathema zu Archaismen degradierte Zeitbesonderheiten wie Sympathien für das Apartheid-Regime, bei Ex-Nazi-Familien wohl noch Schlimmerem, einmal weggedacht, ganz hervorragend auf den Boden der gegenwärtigen fdGO paßt und gar nichts so ungewöhnlich Exotisches und ach so Verflossenes enthält. Die Schnittmengen beider Kreise sind wieder sehr groß geworden, die veränderte Kleidung sollte nicht täuschen.
Was mich selber allerdings doch etwas untypisch macht, war mein ungewöhnlich freier Zugang zu Informationen, aller sonstigen Unterdrückung zum Trotz. Die Familienbibliothek war reichhaltig, und da ich schon aus Selbstschutzerwägungen ein sehr guter Schüler geworden war, hatte ich allmählich ihre Verwaltung an mich bringen und daher auch die Einkäufe besorgen können – mindestens bei Taschenbüchern hatte ich freie Hand, so pünktlich ich ansonsten zu den Essenszeiten anzutreten und danach ohne triftigen Grund das Haus nicht mehr zu verlassen hatte; nachweislich Kulturelles war allerdings immer ein »triftiger Grund« – doch dreimal Wehe über den »Spätheimkehrer«, der sein Schicksal schon in den sauersten aller Mienen lesen konnte! Ich wurde bald klug genug, statt meine Energien in den sinnlosen Kämpfen vieler Jugendlicher dieser Zeit um viertelstundenweise gnädigst verlängerte Ausgehzeiten zu verpulvern und darin zugrunde zu gehen, meine Zeit statt dessen stur abzusitzen, Liberalisierungsangebote, die allmählich, aber zu spät, zu absichtsvoll und zu kleinlich zwecks Unterlaufung meiner Strategie einliefen, mit mürrischer Gleichgültigkeit zu ignorieren, was natürlich auch nicht recht war, und statt dessen in seit spätestens meinem vierzehnten Lebensjahr vollem und gänzlich berechtigtem Bewußtsein, daß die beste Zeit meines Lebens bis zur Haftentlassung – Haft mit begrenztem Freigängerstatus, aber eisern Haft – unersetzlich verrann – und genau das tat sie auch –, statt dessen also ebenso eisern zu lernen und die Zeit zur Erkenntnis zu nutzen. Wie ich es von gewissen Häftlingen des Zarenreichs gelesen hatte, machte ich mir einen sogenannten »Zeitplan«: zwischen Schule und Essenszeiten, wirklich gemachten oder vorgetäuschten Hausaufgaben und Klavierübungen Lesen: ein Stück Literatur – aus plötzlichem Entschluß war ich mit zwölf abrupt von Donald Duck und Kinderbüchern auf ›Anna Karenina‹ umgestiegen und blieb von da an zäh auf dieser Höhenlage der Weltliteratur, auch wenn ich zunächst wohl noch nicht alles verstand, aber dies fleißig versuchte – dann eine Platte klassische Musik – schließlich etwas Wissenschaftliches, wobei Natur und Gesellschaftliches jeder Art einigermaßen gleichmäßig zu teilen waren. Ich hielt diese Lebensweise unverändert bis zu meiner »Haftentlassung« durch.
Mit zwölf kam mir auch die Erkenntnis, daß in der Schule und dem Lexikon (aus dem ich bis dahin alle meine Informationen ehrfurchtsvoll gezogen hatte: erst dem ›Großen Meyer‹, dann dem vielbändigen neuangeschafften ›Brockhaus‹) genau die gleichen Lügen und – das Wort kannte ich natürlich noch nicht – Ideologeme verbreitet wurden, nur raffinierter und scheinbar sachlicher, auf höherer Artikulationsstufe und mehr Neutralitätsheuchelei, wie in der Familie auch. (In einer modernen Hetze fand ich vor wenigen Monaten »woran Sie erkennen, daß Ihr Kind in die Fänge einer Sekte geraten ist«: neben dem Desinfizieren der Klobrille und der Abneigung gegen Gutenachtküsse am eifrigen Gebrauch eines Lexikons! – Ich kann hier eidesstattlich versichern, daß ich zur Entwicklung dieser offenbar schwer staatsgefährdenden Laster keinerlei äußeren Anstoß benötigt und auch nicht erhalten habe.) Ich weiß noch, wie ich in innerer Erregung über diese Erkenntnis: »Überall bescheißen sie Dich – überall belügen sie Dich: Eltern, Schule, Lexika!« den Wintergarten auf und ab schritt, wobei ich innerlich ausrief, aber nur innerlich, daß ich jetzt die »Ego-Befreiungsfront« gegründet habe. Woher ich diesen Ausdruck hatte, weiß ich nicht mehr zu sagen; gemeint war mit ihm, daß ich mein Gehirn als von besagten fremden Mächten besetztes Gebiet betrachtete und gesonnen war, es von ihnen zu säubern und sie hinauszuwerfen. (Wahrscheinlich haben wirklich die tapferen Vietnamesen Pate gestanden, gegen die Stellung zu beziehen ich mich noch innerlich abmühte, aber ich weiß es wirklich nicht mehr – vielleicht deshalb.)
Aber wie diesen Kampf führen? Was war vertrauenswürdig, von welchem Platz aus konnte man beginnen? [...]
Dr. Fritz Erik Hoevels studierte Psychologie, Altphilologie und Literaturwissenschaft in Freiburg i. Br., wo er als niedergelassener Psychoanalytiker tätig war. 1983 trat er durch sein Buch »Marxismus, Psychoanalyse, Politik« hervor, das einiges Aufsehen erregte. Näheres über seine öffentliche Tätigkeit, die ihn bis heute zu einer hochbesetzten Haßfigur der Kirchen, ihrer Trommler und Sympathisanten gemacht hat, findet sich in der historisch aufschlußreichen Dokumentensammlung »30 Jahre Ketzer«. Seine Untersuchung über den Beitrag Wilhelm Reichs zur Psychoanalyse – bevor dieser wohl fähigste Schüler Freuds unter dem Druck seiner vielen Verfolger geistig zusammenbrach – dürfte als Standardwerk zum Thema gelten. Zahlreiche Veröffentlichungen zur Anwendung der Psychoanalyse (Therapie, Literatur, kollektive Phantasien, besonders der Religion) sowie zu Zeitfragen. Hoevels ist ferner Begründer und Mitherausgeber der Zeitschrift »System ubw – Zeitschrift für klassische Psychoanalyse«. Er ist deutscher Herausgeber der wichtigsten Werke des englischen Althistorikers Hyam Maccoby (der nüchterner und treffender als jeder andere die Entstehung des Christentums enträtselte). Seine zwei Bände »Wie unrecht hatte Marx wirklich?« können in ihrer analytischen Tiefe und Schärfe als neue Maßstäbe setzendes Grundlagenwerk gelten.
Fritz Erik Hoevels:
30 Jahre Ketzer
720 S., Großformat (A4), im Schuber, 57 Abb., 76 Faks.
mit Register der Namen, Orte und Organisationen sowie
einer chronologischen thematischen Übersicht
EUR 32,-
ISBN: 978-3-89484-809-5
(ISBN-10: 3-89484-809-X)
Erschienen 1998